Das System Milch: Welche Auswirkungen hat der Konsum von Kuhmilch?

Gigis Leid

Was jedoch definitiv züchterisch manipuliert ist, ist die Genetik der Kuh selbst, sprich: der „Turbokuh“, wie das moderne Hochleistungsrind gerne genannt wird. Deutschland spielt in der Zucht solcher Turbokühe mit dem Holstein-Rind weltweit in der ersten Liga. Kam vor 100 Jahren eine Milchkuh auf gerade mal rund 2.000 bis 2.400 l – ca. 2.500 kg – Milch pro Jahr, „produziert“ ein „Spitzenrind“ heute rund 10.000 Liter. Den Rekord knackte jüngst in den USA eine Holsteiner Kuh mit Namen Bur-Wall Buckeye Gigi: Sie kam auf 33.861 kg Milch in 365 Tagen. „Diese auf extreme Laktation gezüchteten Turbokühe verabreichen den Verbrauchern einen Cocktail von micro­RNA, der viel höher ist als von einer normalen Kuh“, gibt Bodo Melnik zu bedenken. Doch auch abseits Gesundheitsrisiken für den Menschen steckt hinter der Hochleistung enormes Leid: das der Kühe. „Verheizt für billige Milch“ lautet das Fazit einer gleichnamigen SWR-Reportage von 2015, die den Machern den Kommentar abringt: Was sie in der deutschen Milchindustrie an Tierleid vorgefunden haben, hätten sie sich so nicht vorstellen können. Und ob Turbo oder nicht: Nach nur fünf Jahren ist eine Milchkuh im Durchschnitt so ausgezehrt, dass das Tier keinen Ertrag mehr bringt. Was vielen Verbraucher*innen nicht klar ist: Auch die meisten Milchkühe landen dann im Schlachthof. Eigentliche Lebenserwartung von Kühen? Bis zu 20 Jahre.
Doch das Leben einer Milchkuh ist hart. Während der Laktation kommt sie auf eine negative Energiebilanz: Die Produktion von Milch kostet sie mehr, als sie durch Futter aufnehmen kann. Ein Kalb würde sie dabei nicht ruinieren – die immer gierige Melkmaschine schon. Der Stoffwechsel der Tiere kommt während der ca. 300 Tage währenden Melkperiode an seine Grenzen. Die Folge dieses Hochleistungszwangs sind schmerzhafte, auch tödliche Krankheiten wie Euterentzündungen oder die gefürchtete Labmagenverlagerung. Ursache hierfür ist auch die Fütterung mit Kraftfutter: Gras gibt es für die moderne Milchkuh immer seltener. Und auch, wenn die Werbung anderes verspricht: Nur 42 Prozent der Milchkühe in Deutschland haben überhaupt zeitweise Zugang zu Weiden; in Bayern, das sich in Broschüren so gern mit Almwiesen und glücklichen Mutterkühen schmückt, sind es sogar nur 16 Prozent. Stattdessen stehen die Kühe in engen Ställen, auf harten Vollspaltenböden, durch die der Dung ins Güllebecken tropft. Wie die Tiere selbst dieses Leben wahrnehmen mögen, vermittelt der 360-Grad-Film „iAnimal: Literweise Leid“ der Organisation Animal Equality: Er lässt direkt durch die Augen einer Milchkuh blicken (online auf www.ianimal360.de).

Kälberreise nach Ägypten

Und dann wären da noch die Kälber. Denn ohne Nachwuchs keine Milch, und so werden die Rinder für eine beinahe kontinuierliche Laktation einmal pro Jahr künstlich besamt. Auch dieses Detail verschleiern die idyllischen Werbebilder: Die Trennung von Muttertier und Kalb erfolgt in der Industrie – und auch im Familienbetrieb – meist schon wenige Minuten nach der Geburt. Manche Kühe rufen stunden-, sogar tagelang nach ihren Kälbern – man brauche da schon „starke Nerven“, wie ein Landwirt in Andreas Pichlers Dokumentation „Das System Milch“ (vgl. S. 48) anmerkt. Die Aufzucht am Hof erfolgt mit Milchaustauscher – und dies gilt auch nur für die weiblichen Tiere, die sich selbst für die Milchproduktion eignen. Nach zahlreichen Medienberichten ist kein Geheimnis mehr, dass die Landwirte mit männlichem Nachwuchs kaum etwas anzufangen wissen. Denn viele milchgebende Rassen setzen nur wenig Fleisch an, zur Mast sind sie kaum geeignet. Die Preise sind durch die Überproduktion im Keller, manches Kalb kostet den Betrieb mehr, als es einbringt. Immer wieder machen Gerüchte die Runde, dass einige sich der kleinen Bullen also kurz nach der Geburt entledigen. Aufnahmen aus Großbritannien, die der NDR in der Dokumentation „Ramschkälber“ ausstrahlt, zeigen, wie: durch Kopfschuss etwa. Immer wieder heißt es aber auch, manche Landwirte würden eine veterinärmedizinische Versorgung von schwächeren kleinen Bullen bewusst vermeiden – auch eine Krankheit kann Probleme lösen. Die Sendung „Ramschkälber“ befragt Bauern und Tierhändler, ob sie von solchen Fällen auch in Deutschland gehört hätten. Die Antwort kommt zögerlich. Ja, man spreche darüber. Und ja, die Preise seien einfach zu niedrig.
Doch selbst wenn die Preise für Milch und Kälber stiegen, die Betriebe weniger Milch zur Existenz- und ergo weniger Nachwuchs zur Bestandssicherung „produzieren“ müssten: Männliche Kälber können für die Industrie immer nur den „Nutzen“ der Fleischproduktion erfüllen, sie erwartet der Tod im Schlachthof. Und das nicht nur in Deutschland. Erst im November 2017 veröffentlichte das ZDF in der Reihe „37°“ verstörende Aufnahmen von Rindern, die aus der gesamten EU in Drittländer verschifft werden, etwa Iran, Türkei oder Ägypten. Wie die Journalisten in Zusammenarbeit mit Tierschutzaktivisten aufdecken, enden hiesige Tierschutzgesetze in der Praxis mit der Grenze des EU-Raums. Regelmäßig stehen bei Sommerhitze von 40°C die Tiertransporter dann an der Grenze zur Türkei: stunden-, manchmal tagelang, während die Tiere in den LKWs vor Hitze und Durst sterben. Und auch die Kälber der deutschen Milchindustrie werden regelmäßig ins Ausland verscherbelt. Das ZDF hat den Weg eines kleinen Bullen verfolgt, der auf einem bayerischen Familienbetrieb geboren wurde und letztlich in einem Schlachthof in Ägypten landet. Wo Arbeiter das Tier – entsprechend regionaler Gepflogenheiten – zur Schlachtung treiben, indem sie ihm die Beinsehnen durchschneiden und die Augen ausstechen. Auch diese Tierqual macht die Milch.

Milch macht Klimawandel

Während die Landwirt*innen durch die miesen Milchpreise oft unter dem Existenzminimum wirtschaften, machen die riesigen Molkereien und Konzerne der Branche milliardenschwere Umsätze. Größter Milchverarbeiter weltweit ist der Schweizer Konzern Nestlé, dessen Umsatz mit Milch im Jahr 2016 rund 21,7 Milliarden Euro betrug. Und während die hiesigen Bauern und Bäuerinnen versuchen, dem Preisdruck, wie ihn die Industrie oktroyiert, nachzukommen und immer mehr Milch, mehr Kälber, mehr ausgemergelte Schlachtkühe produzieren, treiben sie absurderweise so jenes System an, das sie ebenso ruiniert wie die Tiere. Und auch die Umwelt. Seither die amerikanische Ernährungsbehörde FAO 2006 deutlich gemacht hat, wie wenig nachhaltig tierische Produkte sind, steht insbesondere Rindfleisch massiv in der Kritik: Für 14,5 Prozent der menschgemachten Treibhausgasemissionen zeichnet der Tierhaltungssektor verantwortlich. Er toppt damit sogar den weltweiten Verkehr mit 13 %. Doch es geht nicht nur um Fleisch. Auch die gigantische, durch neue Märkte wie China stetig wachsende Milchindustrie hat am Klimawandel fundamentalen Anteil. Laut einer Studie des WWF machen z.B. Fleischerzeugnisse am deutschen Pro-Kopf-Emissionsausstoß durch Lebensmittelproduktion 40,7 Prozent aus. Doch auch Milchprodukte verursachen 23,6 %. Hinzu kommen all die Probleme, die seit Jahren bekannt sind: Tierfutter aus importiertem Soja und Getreide vernichtet nicht nur Regenwald in Ländern wie Südamerika, es schlägt sich letztlich hier, in der Heimat, in Böden und Grundwasser nieder – der Gülle sei dank. Ein Liter Milch, das macht rund drei Liter Gülle. Und wenn infolgedessen wiederum Kohlendioxid und das noch klimawirksamere Lachgas aus dem Boden aufsteigen, vernichtet auch dies das Klima, während die Nitratwerte im Grundwasser mittlerweile so hoch sind, dass mindestens jede dritte Messstelle im Bundesgebiet Alarm schlägt. Weil Nitrat v. a. für Schwangere und Kinder eine Gefahr darstellt, verklagte im vergangenen Jahr die EU-Kommission Deutschland: Die Behörden schritten nicht genug gegen dieses Gesundheitsrisiko ein.
Auch in dieser Hinsicht ist es also mit den Imagekampagnen der Milchwirtschaft, die so gerne Natürlichkeit und Tradition, Handwerk und Heimatverbundenheit beschwören, nicht weit her. Vielmehr basiert das „Lebensmittel“ Milch auf einer Milch-Märchen-Rechnung mit fatalen Konsequenzen für Mensch, Tier und Natur. Gut also, dass die Regale voll sind mit Milch- und Sahnealternativen, ob aus Hafer, Reis oder Haselnuss. Und mit Cashew-„Käse“ kommt da ein veganer Gaumengenuss ganz neuen Kalibers auf uns zu. Es war noch nie so einfach wie heute, einen endgültigen Strich unter die Milch-Märchen-Rechnung zu ziehen.

 

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