Dr. Melanie Joy im Interview

Foto: Matthias Schillig

Zwischen Karnismus und veganer Selbstfürsorge: Warum knuddeln viele Menschen Hunde und verdrücken nebenher, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Schweineschnitzel? Wie geht man als Veganer*in mit diesem Paradoxon um? Wir haben eine Expertin befragt.

Interview: Jacqueline Flossmann

Dr. Melanie Joy ist Sozialpsychologin, Aktivistin und Autorin von sieben Büchern. Mit „Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen“ gelang ihr im Jahr 2010 ein bahnbrechender Bestseller. Ein entscheidender Grund für die weltweite Beachtung war, dass Joy der unsichtbaren Ideologie, die ihrer Meinung nach hinter einer omnivoren Ernährungsform steckt, einen Namen gab. Mit der Prägung des Begriffs „Karnismus“ als Gegenentwurf zum Veganismus erklärte Joy auf kulturgeschichtlicher und psychologischer Ebene, warum Menschen manche Tiere als Freund*innen und manche Tiere als Essen betrachten. Aufgrund des großen Wandels, der in der letzten Dekade im Bereich Veganismus und Tierethik stattgefunden hat, erschien vor kurzem eine überarbeitete Jubiläums-Neuauflage ihres Buches von 2010. Im Interview mit der VEGAN WORLD spricht die in Berlin ansässige US-Amerikanerin über das System des Karnismus und vor allem darüber, wie Veganer*innen in einer nicht-veganen Welt sich selbst schützen müssen und können.

Warum hast du dich dazu entschieden, eine Neuauflage deines Buches zu veröffentlichen?
In den letzten zehn Jahren hat sich viel getan, das Bewusstsein für die in meinem Buch angesprochenen Probleme ist größer geworden. Viele wissen, dass täglich so viele Nutztiere getötet werden, wie Menschen in der gesamten Weltgeschichte getötet worden sind. Die Vereinten Nationen haben angegeben, dass die Nutztierhaltung einen der signifikantesten Faktoren bei der Klimakrise darstellt. Außerdem wächst der Katalog an Studien und Literatur, die die Gefahren beleuchten, die mit dem Verzehr tierischer Produkte einhergehen, und die Vorteile einer pflanzlichen Ernährung hervorheben. Dazu sind Massentierhaltung und Wildtiermärkte Faktoren, die die Verbreitung von Zoonosen und Pandemien anfeuern und somit eine Bedrohung für die Gesundheit der Weltbevölkerung darstellen. Auch im Bereich Veganismus ist viel geschehen. Wenn wir uns das Angebot und die Verfügbarkeit pflanzlicher Lebensmittel ansehen, ist da ein großer Sprung auszumachen. Diese Kombination aus wachsendem Bewusstsein und dem Voranschreiten der veganen Bewegung führt dazu, dass es für viele Menschen moralisch unangenehmer wird, Tiere zu essen. Es wird schwieriger, dieses Verhalten zu rechtfertigen und es ist so einfach wie nie zuvor, den karnistischen Lebensstil abzulegen.

Wissen wir überhaupt, an welchem Punkt in der Menschheitsgeschichte entschieden wurde, welche Tiere wir als Begleiter*innen und welche wir als Mahlzeit betrachten?
Das ist zwar nicht mein Fachgebiet, aber historisch gesehen gibt es da durchaus Erklärungsversuche und Hinweise. Hierbei ist interessant, dass in verschiedenen Erdteilen unterschiedliche Tiere als essbar oder ungenießbar klassifiziert werden. Dafür gab es praktische oder logistische Gründe. Beispielsweise, dass es einfacher und ungefährlicher war, herbivore Tiere zu töten, als ein Wolfsrudel zu erlegen. Viele dieser Entscheidungen basierten jedoch auch nicht auf rationalen Gründen. In Frankreich beispielsweise essen die Leute Schnecken, in Kalifornien hingegen würde kein Mensch auf die Idee kommen, die exakt selben Schnecken zu verzehren. Dafür gibt es keinen logischen Grund, dahinter stehen Glaubenssätze, Moralvorstellungen und kulturelle Adaptionen, die unsere Wahrnehmung von beispielsweise Ekel prägen. Was spannend ist: In allen Kulturen und Erdteilen greift dieselbe Psychologie, wenn es um das Thema „Tiere essen“ geht. Menschen haben Tieren gegenüber, die sie seit jeher als „essbar“ klassifizieren, nicht viel Empathie. Beim Verzehr stellt sich kein Ekelgefühl ein. All die anderen Tiere jedoch, von denen Menschen gelernt haben, dass sie als nicht essbar gelten, würde man niemals töten. Die meisten empfinden starke Ablehnung gegenüber dem Gedanken, ein solches Tier zu verspeisen.

Lass uns noch mal genauer über den Begriff Karnismus sprechen, den du geprägt hast. Was genau versteht man darunter?
Unter Karnismus versteht man ein unsichtbares Glaubenssystem, das uns darauf konditioniert, manche Tiere zu essen. Der Begriff stellt einen Gegenentwurf zum Veganismus dar. Die meisten gehen davon aus, dass nur Veganer*innen oder Vegetarier*innen einem Glaubenssatz folgen, dabei ist der einzige Grund für die Unterscheidung zwischen Schweinen und Hunden die Existenz eines internalisierten Glaubenssystems. Und wenn Tiere essen keine Notwendigkeit darstellt, dann ist es in der logischen Schlussfolgerung eine Entscheidung – und Entscheidungen stehen immer in Zusammenhang mit Glaubenssätzen.

Wodurch wird dieses Glaubenssystem namens Karnismus aufrecht erhalten?
Der Ausgangspunkt ist folgender: Die meisten Menschen wollen Tieren nicht wehtun. Und trotzdem essen die meisten Menschen Tiere. Nicht weil sie müssen, sondern weil man das schon immer so getan hat. Um diesen Widerspruch zu verdecken, erschafft der Karnismus eine gewisse Mentalität im Kopf der Menschen. Die karnistische Mentalität verzerrt unsere Wahrnehmung und trennt uns von unseren natürlichen, ursprünglichen Gefühlen, z.B. von der Empathie für das Tier, das getötet wird. Aus diesem Grund handeln wir entgegen unserem Mitgefühl, unserer Werte, ohne dass uns überhaupt auffällt, was wir da tun. Der Karnismus wird durch psychologische Abwehrmechanismen aufrecht erhalten. Nutztiere werden beispielsweise im menschlichen Denken zur Abstraktion, ohne jegliche Individualität und Persönlichkeit. Man denkt: Alle Schweine sind gleich. Das erleichtert es uns, sie zu essen, weil wir die emotionale Komponente von dem Thema abkoppeln. Wir bekommen beigebracht, die „drei Ns der Rechtfertigung“ zu reproduzieren. Die meisten Menschen denken, dass Tiere essen normal, notwendig und natürlich ist. Das sind Mythen, keine Fakten, doch wir lernen, daran zu glauben. Diese Rechtfertigungen wurden in der gesamten Menschheitsgeschichte benutzt, um gewalttätige Praktiken und Glaubenssysteme aufrechtzuerhalten, z.B.
auch das Patriarchat.

Sehr spannend finde ich ja die These, dass es den Begriff Karnismus braucht, weil eine korrekte Benennung des Sachverhalts essenziell ist.
Es ist unumgänglich, dieser Ideologie einen Namen zu verpassen. Je mehr Menschen dieses System bewusst wird, desto mehr werden wir darüber sprechen und desto besser ist es, fest umrissene Begrifflichkeiten zu haben, um sinnvoll und objektiv diskutieren zu können. Es ist nicht möglich, ein wertvolles Gespräch über die Nutztierhaltung zu führen, solange wir den -ismus nicht anerkennen. Weil so erst klar wird, dass wir uns in einem System befinden, das uns glauben machen möchte, dass es gerechtfertigt und in Ordnung ist, Tiere zu töten. Man kann auch keine Diskussion über sexuelle Belästigung führen, wenn man das Patriarchat nicht verstanden hat.

Trotzdem läuft die Behandlung dieser Diskurse oftmals genauso ab: ohne Grundlagen und in der Konsequenz aus dem Bauch heraus argumentiert. Wie kann man es schaffen, darüber zu sprechen, ohne alle Anwesenden sofort in Selbstverteidigungsstellung zu bringen? Oft fühlen sich Fleischesser*innen ja durch die bloße Anwesenheit von Veganer*innen angegriffen …
Das ist ein guter Punkt. Karnismus veranlasst die Leute dazu, sich sofort angegriffen zu fühlen, wenn jemand ihr Glaubenssystem herausfordert oder anprangert. Karnismus bringt die Leute dazu, sich jenen Informationen zu verschließen, die sie aus ihrer karnistischen Box herausholen könnten. Meine Organisation heißt „Beyond Carnism“ und einer unserer zentralen Themenbereiche ist effektive vegane Verteidigung und Fürsprache. Wir haben viel Material dazu und ich habe auch schon in Büchern wie „Beyond Beliefs“ darüber geschrieben, wie Veganer*innen möglichst effektiv über Veganismus sprechen können. Wir müssen diese Abwehrmechanismen überwinden und unsere Kommunikation so gestalten, dass sich die Leute öffnen. Das ist ein Lernprozess. Man eignet sich die Basics von zielführenden Kommunikations-
strategien an.

Diese Gespräche können trotzdem sehr anstrengend sein. Im dritten Kapitel des Buches beschreibst du die grausamen Aspekte der Nutztierhaltung. Wie soll man bei diesen himmelschreienden Ungerechtigkeiten ruhig bleiben in Gesprächen, in denen Fleischesser*innen immer dieselben, in meinen Augen unlogischen, Narrative wiederholen?
Dazu möchte ich erst einmal eine dringende Empfehlung aussprechen: Menschen, die sich des Problems bewusst sind, sollten sich solchen Informationen entziehen. Schaut keine Videos oder Fotos an, lest keine Texte, die sich mit der grausamen Behandlung von Tieren beschäftigen. Ihr müsst das nicht tun, denn ihr wisst schon Bescheid. Das kann sonst zu einer extremen psychischen Belastung führen, weil es zu schmerzhaft ist und am Ende kontra-
produktiv wirkt.

Dieser Ratschlag fühlt sich erleichternd an, weil man manchmal in eine Art Tierleid-Doomscrolling-Spirale hineingerät.
Als Veganer*in in einer nicht-veganen Welt zu leben, kann stellenweise sehr hart und manchmal auch traumatisierend sein. Man sollte seine eigene Bedürfnisse in den Fokus stellen. Unter Veganer*innen gibt es viele Fälle von sekundärer Traumatisierung. Das ist wie eine Posttraumatische Belastungsstörung, nur dass die sekundäre Traumatisierung die Zeug*innen von Gewalt und nicht die direkten Opfer betrifft. Deshalb ist es so wichtig, auf sich aufzupassen und sich nicht ständig von Neuem zu traumatisieren.

Wir haben ja schon anfangs über den positiven Wandel in den letzten zehn Jahren gesprochen. Dennoch ist das System, das du als Karnismus bezeichnest, sehr stark. Kann es trotzdem ausgehebelt werden?
Davon bin ich überzeugt. Fast überall findet man Beweise dafür. Ich war in 50 Ländern auf verschiedenen Kontinenten und überall spürt man, dass die Sympathie für den Veganismus größer wird, dass sich etwas tut. Als ich in den 80ern vegan wurde, konnte ich wässrige Sojamilch und Tofu essen. Hier hat sich sehr viel verändert. Und der Veganismus wird auch zu einer wirtschaftlichen Größe. Überall sprießen pflanzliche Unternehmen oder Start-ups aus dem Boden, Firmen wie die Rügenwalder Mühle machen mehr Umsatz mit Ersatzprodukten als mit Fleischprodukten, vegane Organisationen professionalisieren sich zunehmend, man vernetzt sich. Der Wandel, der in den letzten 30 Jahren stattgefunden hat, ist substanziell. Und davon ist alleine in den letzten fünf bis zehn Jahren das meiste passiert. Der Karnismus ist ein Puzzleteil eines noch größeren Problems – wenn wir den Karnismus beenden, ist nicht automatisch jede soziale Ungerechtigkeit auf dieser Welt gelöst. Aber ich sehe immer mehr Menschen, die sich in die richtige Richtung bewegen.

INFO:


DR. MELANIE JOY
Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen.
Eine Einführung in den Karnismus
Ventil Verlag, 264 Seiten,
Neuauflage 2022, 16,00 €

Weitere Infos findet auf carnism.org.

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