Kolumne: Schnitzelphrenie

Die einen streicheln und herzen wir, die anderen behandeln wir wie bloße Produkte. Doch warum diese paradoxe Dichotomie, wenn es um Tiere geht?

TEXT: JACQUELINE FLOSSMANN

Jedes Jahr im Juni muss man auf Social Media mit Bildern grausamer Folterszenen rechnen. Denn: In Yulin in China startet dann wieder das jährlich stattfindende Hundefleischfestival, in dessen Rahmen binnen weniger Tage bis zu 10.000 Tiere auf grausamste Weise geschlachtet und verzehrt werden. Da steht Facebook plötzlich Kopf. Denn wenn der beste Freund der Deutschen im fernen China so barbarisch hingerichtet wird,kann sogar dem Vatti beim gediegenen Sonntagsbraten mal vor lauter Zeigefinger-Erheben die Gabel aus der Hand fallen. Die anderen wieder! Kopfschütteln. Entsetzen. Um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen: Das Schlachtfest in Yulin ist eine Abart, eine einzige Grausamkeit. Und doch ist die Festivität bei näherer Betrachtung vom Konzept einer Martinsgans – mit Ausnahme der verschlossenen Schlachthaustüren – gar nicht so weit entfernt. Es ist und bleibt eines dieser ominösen Rätsel der Menschheitsgeschichte: Warum verarbeiten wir die einen Tiere zu Hack, während wir mit den anderen intime und von großer Liebe geprägte Beziehungen führen? Woher ziehen wir unsere Argumente für die Unterscheidung zwischen Nutz- und Haustieren?

Man könnte natürlich der Simplizität zuliebe die Bibel dafür verantwortlich machen, weil sie dummerweise die Menschheit als Krone der Schöpfung auserkoren hat. Auch die Sesshaftwerdung und die daraus resultierende Agrarwirtschaft ist in diesem Kontext höchst problematisch, schließlich wurden hier erstmals Tiere in größerem Stil gehalten und für menschliche Zwecke genutzt. „Helden“ wie beispielsweise einen René Descartes kann man ebenfalls zur Rechenschaft ziehen. Selbiger nämlich hielt Tiere noch im 17. Jahrhundert für Maschinen, die keine Emotionen und schon gar keine Seele besitzen. „Ihre Schmerzensschreie bedeuten nicht mehr als das Quietschen eines Rades“, behauptete der gute René damals öffentlichkeitswirksam und auch heute noch hält sich in diversen Kreisen hartnäckig die Meinung, dass Tiere kein Selbstbewusstsein hätten, sich also ihrer eigenen Existenz nicht bewusst wären. Das ist natürlich ein starkes Stück von einer Behauptung und obendrein ziemlich irrsinnig. genau betrachtet, unterscheiden wir Menschen uns vor allem in zwei Punkten von anderen Säugetieren: Wir können uns ziemlich gut organisieren und glauben gerne an selbst gesponnene Mythen. Dass auch heute trotzdem noch verbohrt starre Fantasie-Grenzen gezogen werden und zur Not mit steinzeitlichen Argumenten à la „Fleischkonsum ist natürlich“ argumentiert wird, ist nicht nur blanker Hohn, sondern grenzt fast schon an eine komplexe psychische Erkrankung. Ferndiagnostisch gesprochen handelt es sich wohl um Schnitzelphrenie. „Wenn Schlachthäuser Wände aus Glas hätten, wären alle Vegetarier“, meinte einst Sir Paul McCartney. Man möchte dem Beatle gerne zustimmen, doch leider illustrieren Filme wie „Earthlings“ oder zahlreiche Videos von Tierschutzorganisationen bildgewaltig, wie der Alltag in Tierhaltung und Tierschlachtung heute aussieht: ekelhaft, würdelos, grausam. Die Transparenz ist da, die Einsicht vielerorts noch ganz fern. Jüngste Studien der University of Cambridge legen die Vermutung nahe, dass Schweine ungefähr über die emotionalen und intelligenten Fähigkeiten eines Kleinkindes verfügen. (Friss das, Descartes!) Eine erschütternde Erkenntnis, die mich persönlich von zweierlei Dingen abhalten würde: 1. Aus meiner vierjährigen Nichte Schinken zu machen. 2. Aus einem Ferkel Schinken zu machen. Doch die dissoziativen Mechanismen der westlichen Welt rattern raffiniert weiter. Zum einen ist uns die Kunst des Verdrängens in die Wiege gelegt, zum anderen leidet die Menschheit wohl an einer speziellen Form von Napoleon-Komplex gepaart mit ordentlich Narzissmus. Eine Nischen-Anpassungsstörung im Bereich Esskultur, welche für sich allein genommen wiederum völlig verquer ist, krönt die komplexe Verkettung. Kulturwissenschaftler*innen gehen gern davon aus, dass der Mensch im Bereich Esskultur besonders wandlungsträge ist, da Essmuster über Jahre hinweg erlernt werden und mit Erinnerungen, Emotionen und soziokulturellen Codierungen aufgeladen sind. Schaut man sich jedoch Trends der letzten Jahrzehnte an wie Fast Food, den Snack zwischendurch, die Bowls, Smoo- thies und Superfoods aus fernen Ländern, kann man konstatieren, dass wir uns vielerlei Neuem durchaus bereitwillig öffnen. Nur wenn uns einer ans heilige Fleisch will, hakt es aus. Doch genug geschimpft! Ganz so streng muss man natürlich nicht sein: Das Aufbrechen festgefahrener Denkmuster ist schließlich ein langwieriger Prozess, der für die meisten von uns Gewohnheitstieren einen echten Kraftakt darstellt. Deshalb liegt der Schlüssel zum Erfolg – wie bei jeder erfolgreichen Verhaltenstherapie auch – in einem angemessenen Maß an Beständigkeit und Selbstreflexion.

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