Die Deutschen gelten als leidenschaftliche Grillfreund*innen. Wenn jetzt die Kohlen angefacht werden, zieht der Geruch unzähliger Steaks, Würstchen und allerlei anderer, auf Grillrosten kokelnder Speisen, durch Gärten und Parks – doch das beliebte Hobby hat auch Schattenseiten.
Autor: Alexander Nym
Wenn die Sonne vom Himmel lacht, zieht es uns ins Freie, wo wir die erstarkende Natur mit allen Sinnen genießen können. Diesem Drang kommt das Gri-len als Zwitter aus gemeinschaftlichem Basteln und Kochen entgegen, und die Kühlregale der Supermärkte überbieten sich gegenseitig mit Grillgut – zunehmend auch fleischlosem. Dem anwachsenden Trend zu pflanzlicher Ernährung ist es zu verdanken, dass die Qualität sogenannter Fleischersatzprodukte, also Würstchen, Steaks, Burgerpatties usw. auf Pflanzenbasis, in den vergangenen Jahren schmeckbare Fortschritte erzielte (zumindest der subjektiven Erfahrung des Autors zufolge).
Vegetarisch/vegan lebende Menschen haben also nicht mehr zwingend das Nachsehen, wenn es darum geht, sich im Freien über offener Glut eine schmackhafte Mahlzeit zu gönnen. Nicht zuletzt angesichts der immer widerwärtigeren Methoden, der sich die Fleischindustrie bedient, um noch mehr Ware zu noch niedrigeren Preisen abschlagen zu können, und der damit einhergehenden, nicht enden wollenden Spirale von Lebensmittelskandalen ist damit zu rechnen, dass mehr und mehr Menschen sich in Zukunft von Tierfleisch als Grillfutter verabschieden werden. So gelang es dem TV-Magazin Frontal 21 unlängst, eine aus Wasser, Schlachtabfällen und Restfleisch gepanschte „Wurst“ durch die Lebensmittelprüfung zu schmuggeln. Doch damit nicht genug: Sie erhielt gar das DLG-Gütesiegel! Ein Skandal, der einen erschreckenden Einblick in die Qualität der Qualitätskontrollen in Deutschland gewährt und neben begründeten Zweifeln am Inhalt von Fleischprodukten die Frage aufwirft: Wer kontrolliert eigentlich die Kontrolleur*innen?
Dabei ist dies nur der jüngste Eklat in einer nicht enden wollenden Reihe von Blamagen, Inkompetenz, Ignoranz und Fahrlässigkeiten in einer Branche,die weitgehend unkontrolliert und hinter verschlossenen Stalltüren operiert. Immer wieder geraten einzelne Betriebe in die Medien, wenn es Tierrechtsinitiativen gelingt, die unfassbaren Zustände in den Mast- und Schlachtfabriken ans Licht zu bringen. Darauf folgen in der Regel die üblichen Ausreden, Schutzbehauptungen und Besserungsbeteuerungen, angefangen beim Personalmangel der zuständigen Kontrollbehörden über die obligatorische Einzelfallbehauptung bis zur pikierten Distanzierung von den „schwarzen Schafen“. Konkrete Verbesserungen, wie etwa die langwierige Reform des Tierschutzgesetzes, die Einführung strenger Kennzeichnungspflicht oder mehr unangekündigte Kontrollen, bleiben, wenn nicht ganz aus, dann meist folgenlos, was nicht zuletzt an der engen Verzahnung von Massentierhaltungs- und Landwirtschaftslobby mit der Politik liegt. Analog dazu reflektiert die einschlägige Rechtsprechung überwiegend die Interessen der Industrie, anstatt der der Tiere und ihrer Verbraucher*innen. Schließlich ist Deutschland nicht nur BBQ-Land, wo 400 Gramm marinierte Nackensteaks nicht mehr als 2,99 kosten dürfen, sondern auch Großexporteur von Billigfleisch aus gigantischen Mastanlagen, und damit das so bleibt, müssen auch die Zahlen gigantisch bleiben. Bio-Landwirtschaft mit glücklichen Kühen auf der frischen Weide kann man so zwar nicht praktizieren – wohl aber die Kriterien zur Vergabe von Biosiegeln, Öko-Labels u.ä. dergestalt lockern, dass auch Großbetriebe mit weitgehend konventioneller Landwirtschaft Greenwashing betreiben können. Eine Farce angesichts der wahren Verhältnisse in den Ställen, die von Aktivist*innen nur schlaglichtartig beleuchtet werden können. Traurigerweise muss davon ausgegangen werden, dass die immer wieder enthüllten Verstöße von Mastbetrieben gegen das ohnehin schon laxe Tierschutzgesetz nicht die Ausnahmen darstellen, sondern vielmehr die Regel. Dabei könnte ein Gegensteuern so einfach sein: Zwei Drittel der Deutschen befürworten strengere Tierschutzgesetze zur artgerechteren Haltung und vier von fünf fordern rigidere Kontrollen und eine
Kennzeichnungspflicht zur Haltungsform für alle tierischen Erzeugnisse. Doch um den globalen Auswirkungen des Fleischwahns zu begegnen – angefangen von Antibiotikaresistenzen, der Nitratbelastung von Böden und Gewässern, der weltweiten Landnahme, Flächenversiegelung und Zerstörung von Biodiversität in den gigantischen Futteranbaugebieten
vornehmlich der „Dritten Welt“, bis zur Reduktion von CO2-Ausstoß und dem immensen Wasserverbrauch, welcher bis zur Schlachtreife eines Kilos Rindfleisch 17 Liter beträgt – müssten die Industrienationen ihren Tierkonsum um die Hälfte reduzieren. Zum Vergleich: In derselben Zeit, in der die Weltbevölkerung sich verdoppelte, hat ihr Fleischhunger sich verdreifacht. Dabei übersteigen die jährlichen Schadstoffemissionen der 20 größten Konzerne der Branche bereits die ganz Deutschlands, der immerhin viertgrößten Industrienation der Welt. Die Top Fünf der Fleisch- und Milchkonzerne erzeugen zusammen mehr klimaschädliche Gase als der Ölriese Exxon. Halten die anderen Wirtschaftsbereiche ihre Vorgaben ein und entwickelt sich der Fleisch- und Milchsektor im Trend der vergangenen Jahre weiter, steigt sein Anteil an den klimaschädlichen Gasen von heute 14 auf über 30 Prozent im Jahr 2030, und auf mehr als 80 Prozent im Jahr 2050. Für kein anderes Konsumgut wird so viel Land benötigt wie für Fleisch und Milch, denn obwohl Menschen nur
17 Prozent ihres Kalorienbedarfs mit tierischen Produkten decken, benötigt man dafür 77 Prozent des globalen Agrarlands. Davon sind knapp zwei Drittel Weiden, die durch die Tiere effizient genutzt werden; der Rest ist Ackerland, das durch den Anbau von Feldfrüchten viel effizienter zur globalen Ernährung beitragen könnte, denn die Produktion von einem Kilogramm tierischem Eiweiß benötigt das Neunfache(!) an pflanzlichem Eiweiß. Jahr für Jahr wächst die Ackerfläche für den Futtermittelanbau. Für Soja, die Nummer eins unter den Tierfutterpflanzen, lag sie 1997 bei 67 Millionen Hektar, inzwischen sind es 120 Millionen.
Vor allem in Südamerika wird die Entwaldung vorangetrieben, um Futtermittel für die Massentierhaltungsställe der „Ersten Welt“ anzupflanzen. Seit 1960 ist die weltweite Sojaproduktion fast um das Zehnfache gestiegen; bezogen nur auf die letzten zwei Jahrzehnte hat sie sich fast verdoppelt (von rund 125 Mio. Tonnen 1995/96 auf 230 Mio. Tonnen im Jahr 2009). Vom gesamten Handelsvolumen landen allerdings nur 10-20 Prozent in menschlichen Mägen. Der Rest findet als Viehfutter Verwendung; zwei Drittel allein in der US- und europäischen Massentierhaltungsindustrie, die dadurch direkt verantwortlich ist für Landnahmen durch Großkonzerne, die Verdrängung eingeborener Stämme und die anschlie-
ßende Rodung des Regenwalds und der Waldsavanne. Die Viehzucht ist damit die größte Ursache für die weltweite Entwaldung, und die chemische Pflanzenschutzkeule für die gigantischen Sojaplantagen sind wiederum ein Riesengeschäft für Konzerne wie Syngenta und Monsanto. Daneben bedeuten die rapide Industrialisierung der Tierhaltung mit ihren Preisvorteilen gegenüber der lokalen Produktion und der Preiskampf auf dem globalisierten Fleischmarkt die Zerstörung der Lebensgrundlage kleinbäuerlicher Produzenten in vielen Ländern, besonders in Afrika und Südamerika. Aber auch hierzulande profitieren vor allem die Ausbeuter*innen und Spekulant*innen von den Bedingungen in der Massentierhaltungsindustrie, unter denen nicht nur die Tiere leiden. Deutsches Billigfleisch, das in deutschen Discountern verkauft wird, wird nicht selten von Herstellern produziert, die ausländische Saisonarbeiter*innen unterhalb des Mindestlohns und unter prekären Bedingungen beschäftigen. Wer im Containerdorf wohnt und für blutige Schwerstarbeit im Akkord mit Almosen bezahlt wird, hat wenig Veranlassung, sorgfältig auf die Einhaltung der schlichtesten Vorgaben im Tierschutzgesetz zu achten. Dies führt dazu, dass Schweine und Rinder oft noch lebend ins Brühbad geschickt werden oder qualvoll verbluten. So lange Profitmaximierung und Gewinnstreben auch juristisch und ethisch als ausreichende Gründe angesehen werden, dem Status Quo des millionenfachen Tierleids außer Lippenbekenntnissen nichts entgegenzusetzen, werden wir mit dem Wissen leben müssen, dass der Preis, den wir für Billig-Grillsteaks aus dem Kühlfach bezahlen, wesentlich höher ist, als der aufgedruckte.Dabei ist es so einfach, auch als Einzelne*r Gegenmaßnahmen zu ergreifen: Falls du nicht ohnehin komplett auf Fleisch verzichtest, dann frage erbarmungslos nach. Supermärkte haben aufgrund ihrer Marktmacht viel Gestaltungspotenzial, wie auch Verantwortung gegenüber dem/der Endkunden/-kundin, also dir! Hier kannst du durch Nachfragen und bewussten Konsum ansetzen, um die gesamte Lieferkette von ihrem Ende her zu hinterfragen. Und wenn du keine befriedigenden Antworten bekommst, dann mache ruhig von deiner Freiheit Gebrauch und kaufe etwas nicht, bevor du dich auf die sprichwörtliche Katze (bzw. eben das Rind, Schwein, Huhn …) im Sack einlässt. Über kurz oder lang muss der Druck auf die wirtschaftlichen und politischen Akteur*innen derart steigen, dass die längst überfällige Einführung gut sichtbarer staatlich verpflichtender Kennzeichnungen über die Art der Tierhaltung Realität wird. Bei Eiern hat es schließlich auch funktioniert (wenn auch Eier, die in anderen Produkten enthalten sind, nicht deklariert werden müssen, weshalb für derartige Erzeugnisse in der Regel Eier aus Käfighaltung verwendet werden).
Angesichts der fortgesetzten Serie von Lebensmittelskandalen ist der eigentliche Skandal der, dass Politik und Konzerne bis auf schlecht getarnte Feigenblattpolitik untätig bleiben und sich auf „freiwillige“ Maßnahmen zur Verbesserung der Haltungsbedingungen in Mastställen beschränken. Wenn wir, die Konsument*innen, unsere Marktmacht strategischer nutzen, müssen wir vielleicht nicht mehr auf die EU warten, um die deutsche Regierung zu zwingen, gegen Luftverschmutzung und Nitratverseuchung vorzugehen – und somit gegen die Big Player in Landwirtschaft und Fleischproduktion. Sonst wären ihre eigenen Klimaziele nichts weiter gewesen als heiße Luft.