Das System Milch: Welche Auswirkungen hat der Konsum von Kuhmilch?

Werbung ist ja oft dann provokant, wenn es mit ihren Inhalten nicht so weit her ist. Als der Slogan „Milch macht müde Männer munter“ in den 1950ern – wenig kreativ – milchweiße Flüssigkeiten und Manneskraft assoziierte, durchbrach das immerhin die damalige Prüderie. Doch als die CMA, die Centrale Marketing-Gesellschaft der Deutschen Agrarwirtschaft, vor wenigen Jahren mit „Ich liebe schöne Schenkel“ für Hühnerbeine warb, musste man noch nicht mal ausgeprägt tierlieb sein, um sich von dem Gedankenspiel von marinierten Keulen und Damenbeinen, geschlachteten Hühnern und altherrenhaftem Sexdrive abgestoßen zu fühlen. Auch ein Großteil der Landwirte fand übrigens diesen Slogan damals gar nicht witzig. Doch freilich bleiben stumpfe Werbesprüche bestens hängen, auch wenn beispielsweise Milch mit Munterkeit aufgrund ihres hohen Tryptophan-Gehalts – Basis für das Wohlfühlhormon Serotonin – wenig zu tun hat: Nicht umsonst gilt warme Milch mit Honig als Hausmittel für besseren Schlaf.
Weil sich die M-Alliteration trotz Inhaltsleere bewährt hatte, blieb das Milch-Marketing dabei: In den 1970ern pries Kabarettist Wolfgang Gruner mit dem Satz „Milch ist gegen Maroditis“ gesundheitsförderliche Wirkungen des Produkts. Schließlich solle Milch gegen „marode“ machende Erkrankungen wie Osteoporose so vorzüglich präventiv wirken. Und in den 1980ern generalisierte die CMA das Versprechen: „Die Milch macht’s“ lautet der berühmte Slogan. Doch stellt sich heute zunehmend die Frage: Was eigentlich? Starke Knochen? Allergien? Oder gar Krebs?

Im milchig Trüben fischen

Denn mittlerweile ist ein echter Glaubenskrieg ausgebrochen um „Das heilige Gesöff“, wie Die Zeit jüngst frotzelte, während die Hersteller auf die Nahrhaftigkeit pochen: beispielsweise die Landesvereinigung Milch NRW, die vor Kurzem das „Wundermittel Milch“ als „perfektes Sportlergetränk“ rühmte. Die wissenschaftliche Datenlage indes ist widersprüchlich. Wie Studien zeigen, fördert Milch einerseits Prostatakrebs, andererseits scheint sie vor Darmkrebs zu schützen. Einerseits mache sie dick, andererseits unterstütze sie die Gewichtsreduktion. Wer sich hier eine Meinung zu Milch bilden möchte, fischt geradezu im milchig Trüben – und muss zudem immer wieder feststellen, dass so manche Studie in Nähe zur Milchindustrie entstanden ist.
Fragen wir also nicht pauschal, ob Milch gesund oder ungesund ist, sondern stattdessen, ob sie ihre zentralen Gesundheitsversprechen halten kann: Sind Milchprodukte wirklich die besten Calciumlieferanten, um unsere Knochen gegen „Maroditis“ zu schützen? Oder sind sie gar echte „Calciumräuber“, wie Milchgegner*innen gerne behaupten? Denn die Proteine der Milch, so heißt es oft, übersäuerten den Körper und führten gerade dazu, dass jener vermehrt Calcium ausscheide. Deswegen sei auch Osteoporose kaum in asiatischen, sondern nur in westlichen Ländern anzutreffen, wo der Milchkonsum besonders hoch ist. Ein Trugschluss, wie Mediziner und Veganismus-Verfechter Dr. Markus Keller mit seinem Wissenschaftler-Team errechnet. Die Calciumbilanz von Milchprodukten ist insgesamt positiv. Denn das Mineral besitzt hier – vermutlich auch dank der Laktose – eine gute Bioverfügbarkeit. Allerdings gilt dies keineswegs nur für Milch, Käse & Co: Die Bioverfügbarkeit von Calcium in Mineralwässern und angereicherten Pflanzendrinks, aber auch z.B. in Leinsamen oder Chinakohl ist bestens. Liegt sie etwa bei Kuhmilch bei 31 Prozent, ist Calcium in Mineralwässern zwischen 24 und 48 Prozent aufnehmbar, in Chinakohl zu 32 Prozent, in angereichertem Sojadrink zu 36 Prozent. Doch tatsächlich gibt es in Ländern mit starkem Milch- sprich Calciumkonsum eine hohe Rate an Knochenbrüchen, die auf Osteoporose zurückgehen. Allerdings ist die Knochengesundheit nicht nur von der Calciumversorgung abhängig, sondern auch von Nährstoffen wie Phosphor und Vitamin D, das die Calciumaufnahme im Darm überhaupt erst ermöglicht. Außerdem hängt Osteoporose auch ab von Genetik und Hormonen – und von körperlicher Bewegung. Letztlich sei es ein Mythos, dass v. a. die westlichen „Milchtrinker*innen“-Nationen ein höheres Osteoporose-Risiko hätten als etwa asiatische Länder mit wesentlich niedrigerem Milchkonsum, erklärt die International Osteoporosis Foundation. In den vergangenen drei Jahrzehnten habe sich etwa die Hüftfraktur-Rate in den meisten asiatischen Ländern verdoppelt bis verdreifacht – weniger Milch hin oder her.

Doping mit Milch

Mit Blick auf unsere Gesundheit erlaubt der heutige Forschungsstand um Milch das Fazit: Die weiße Substanz ist weder eindeutig gefährlich noch unbedenklich, aber eben auch keineswegs notwendig. Je nach Menge und individueller Veranlagung kann sie auf den menschlichen Körper vor- oder nachteilig wirken – wie jedes Lebensmittel. Doch vielleicht liegt gerade hier der Fehler: Vielleicht ist es falsch, eine Substanz wie Milch, die Säugetiere natürlicherweise nur zu einer ganz bestimmten, zeitlich extrem begrenzten Phase aufnehmen – nämlich kurz nach der Geburt –, überhaupt als Nahrungsmittel zu denken. „Milch ist kein Produkt“, betont Prof. Dr. Bodo Melnik von der Universität Osnabrück. Der Humanmediziner gehört derzeit zu den stärksten Kritiker*innen des Milchkonsums. Er fordert ein Umdenken: „Milch ist eine hochkomplexe Signalsubstanz zur Versorgung eines Neugeborenen. Ihr Signal lautet Wachstum. Neugeborene Säugetiere sind von dieser Programmierung durch Milch zu wachsen abhängig. Wir können sie auch als eine Art Doping verstehen: Doch dieses muss nach dem Abstillen enden. Alle Tiere hören dann damit auf – nur der Mensch nicht.“ Stattdessen konsumierten wir das Wachstums-Stimulans im Übermaß, auch als Erwachsene. „Und ja, mit Blick auf Krebserkrankungen etwa ist Wachstum eine negative Stimulation.“ So erkläre sich auch eine der wenigen Erkenntnisse, über die sich die Fachwelt einig ist: dass Milchprodukte das Risiko von Prostatakrebs erhöhen.
Wer sich die Mikroebene von Milch ansieht, begegnet einer mächtigen Substanz: „Milch hat im Prinzip eine Hardware- und eine Software-Komponente“, erläutert Prof. Melnik das komplexe Forschungsfeld anhand von Metaphern. „Die Hardware sind bestimmte Aminosäuren – Basis für Eiweiße – wie Leucin. Sie kommunizieren mit den Zellen des Neugeborenen – oder eben auch des erwachsenen Konsument*innen. Das heißt, sie aktivieren einen Enzymkomplex namens mTORC1 und der schaltet dann die Zelle auf Wachstum.“ Wer Muskelaufbau betreiben möchte, greift deswegen gerne zu leucinhaltigen Nahrungsergänzungsmitteln wie Proteinshakes auf Kuhmilchbasis. „Klar, das gibt Muskeln“, kommentiert Prof. Melnik, „aber eben nachweislich auch Akne, die die Forschung ja erst auf die Spur von Milch geführt hat. Milch wird ja nicht auf die Haut aufgetragen, sondern getrunken – es gibt da also offenbar eine systemische Wirkung. Und mittlerweile weiß man, dass der Enzymkomplex mTORC1 auch beim Prostatakarzinom überhöht aktiv ist.“ Nicht nur Männern kann insofern ein starker Milchkonsum schaden, wie übrigens auch das sonst deutlich pro Milch argumentierende Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft einräumt. Problematisch sei bereits die übermäßige Zugabe von Milcheiweiß in Säuglingsnahrung. Dank Kuhmilch wachsen Babys besser. Aber die Programmierung durch Milch funktioniere artspezifisch, warnt der Osnabrücker Forscher. „Ein Kuhkalb muss viel schneller wachsen als ein menschlicher Säugling. Deswegen hat Kuhmilch beinahe dreimal so viel Eiweiß wie menschliche Muttermilch.“ Ein Zuviel des „Dopings“ von Kinderbeinen an, das Prof. Melniks Forschung in direkten Zusammenhang mit Zivilisationskrankheiten wie Diabetes mellitus Typ 2 stellt.
Doch in der wissenschaftlichen Kontroverse geht es derzeit nicht nur um die „Hardware“ Aminosäuren, sondern auch um die „Software“ in der Milch: die sogenannte microRNA. „Das sind genetische Partikel mit genregulativer Wirkung“, erklärt Prof. Melnik. Rund 250 verschiedene wurden in Kuhmilch gefunden – und viele sind über die Artgrenze hinweg bioaktiv. Das bedeutet: Durch den hohen Konsum von Kuhmilchprodukten könnten wir unsere eigene Genetik manipulieren – auch wenn sich die Forschung bislang uneins ist, ob das so passiert und was es für die menschliche Gesundheit bedeutet. Manche Studien stellen z. B. die microRNA 148a, die beim Rind mit einer gesteigerten Laktation zusammenhängt, in direkte Verbindung mit dem Adipositasproblem unserer Zeit.

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