Zusatzstoffe: Substanzen des Schreckens?

Zusatzstoffe: Substanzen des Schreckens?

Im Supermarkt war ein Glaubenskrieg ausgebrochen. Ein Paar diskutierte lautstark: über einer Tief kühlpizza. Der junge Mann hielt dieses Convenience-Produkt offenbar für ein Gesundheitsrisiko. „Weißt du, wie viele E-Nummern da drin sind? Horror! Und dann wunderst du dich, wenn du Allergien kriegst“, hielt er seiner Freundin vor. „Weißt du, was du bist?“ schnappte sie zurück. „Total chemophob!“ Entnervt stapfte sie zur Kasse – unter dem Arm die vermeintlich gefährliche Pizza. Die Szene war amüsant, doch sie lenkte meinen eigenen Blick auf das Glas Cocktailkirschen, das ich soeben kaufen wollte. E 127,E 124, E 220 prangte es kryptisch auf dem Etikette. Drei „Es“ für ein paar überzuckerte Kirschen?
E-Nummern verhalten sich wie Lebensmittelmagie, sind aber Hochtechnologie. Sie machen Brot lange haltbar, Saucen supercremig und Süßigkeiten so zauberhaft bunt. Geheuer sind sie uns meist trotzdem nicht. Laut einer Umfrage durch das Eurobarometer äußerten sich im Jahr 2010 66 Prozent der Europäer*innen, sie seien wegen Zusatzstoffen besorgt, 25 Prozent sogar sehr. Immer wieder macht die Runde, die verschiedenen Stoffklassen wie Emulgatoren und Geschmacksverstärker führten zu ernsten Krankheiten wie ADHS und Alzheimer, Reizdarm und Krebs. Alles nur E-Panik, eine Chemophobie, weil wir die Stoffe und ihre Funktionen nicht genau verstehen?

Was ist ein Zusatzstoff?

Beinahe 400 E-Nummern umfasst die Liste der Zusatzstoffe, die in der Europäischen Union zugelassen sind – deswegen übrigens auch das E. Die Nummerierung sollte die Verkehrsbezeichnung der Stoffe vereinfachen. Aus Verbrauchersicht kein echter Gewinn, schließlich finden uns wir Nicht-Chemiker zwischen E 239, E 161g und E 320 ebenso wenig zurecht wie zwischen Hexamethylentetramin, Canthaxanthin und Butylhydroxyanisol. Immerhin vermögen Klassennamen Aufschluss über die Funktion zu geben, z.B. als Angabe „Farbstoff: Cochenillerot A (E124)“.Wie in meinen Cocktailkirschen. Wo dieser Farbstoff selbst wiederum mit der Zusatzangabe versehen ist: „kann Aktivität und Aufmerksamkeit von Kindern beeinträchtigten“. Das weckt weniger Vertrauen.
Dabei lesen sich die Anforderungen für eine Zulassung durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) strikt. Ohne Prüfung ist jeder Einsatz von Substanzen aus der Lebensmittelchemie zunächst verboten. Nur bei Nachweis, dass der Stoff gesundheitlich unbedenklich ist, technologisch wirklich notwendig und zugleich den Konsumenten nicht täuscht, indem er ihm z.B. falsche Frische vorgaukelt, gibt die EFSA ihr Okay.

Zusatz oder Zutat?

Findigen Einkäufern mag allerdings Verwirrendes aufgefallen sein. Etwa, dass Ascorbinsäure manchmal als Vitamin C deklariert ist, manchmal als E 300. Das Beispiel zeigt die fließende Grenze zwischen Zusatzstoffen und Zutaten wie Aromen, Gewürzen oder eben Vitaminen. Ausschlaggebend ist die Funktion: Soll Ascorbinsäure die Oxidation eines Produkts verhindern, gilt sie als Zusatzstoff, namentlich als „Antioxidationsmittel E 300“. Dient sie hingegen dem Nährstoffgehalt: als sympathische Zutat „Vitamin C“.
Noch weniger durchschaubar ist die Sache mit den sogenannten technischen Hilfsstoffen. Diese gelten nicht als Zusatzstoffe. Doch auch sie werden aus „technologischen Gründen“ einem Produkt beigefügt. Allerdings dürfen sie, anders als Zusatzstoffe, als Rückstände im Endprodukt keine Wirkung mehr besitzen – und müssen deswegen auch nicht deklariert werden. Was zu diesen technischen Hilfsstoffen gehört? Enzyme, Klärmittel – oder auch Pflanzenschutzmittel.

Warnungen

Mittlerweile ist die Skepsis der Verbraucher so groß, dass das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) auf seiner Infoseite vehement reagiert. Man distanziert sich vor der „Verbreitung von gefälschten Listen mit unseriösen Warnungen“ vor Lebensmittelzusatzstoffen. Zweifelsohne nutzt so manche unseriöse Quelle unser Unverständnis, was in den High-Tech-Laboren moderner Lebensmittelfabriken vor sich geht, und schürt Ängste vor Krankmachern im Essen. Doch auch die Verbraucherzentrale hat eine solche Liste im Angebot, und diese Institution gilt gemeinhin nicht als unzuverlässig. Bei diversen E-Nummern rät sie dazu, maximal mäßig zu konsumieren (siehe Infobox). Diese Warnungen betreffen insbesondere Menschen, die gesundheitlich vorbelastet sind, etwa Asthmatiker*innen, Neurodermitiker*innen oder jene, die zu Pseudo-Allergien neigen. Im Fall Asthma etwa gelten insbesondere Konservierungsstoffe – also die Nummern E 200 bis E 242 – als bedenklich. Ein Beispiel ist das Sulfit-Asthma: eine pseudo-allergische Reaktion auf die konservierenden Schwefelverbindungen, wie sie in Trockenfrüchten, Fertigprodukten oder auch Wein zum Einsatz kommen. Immerhin5 Prozent der Asthmatiker*innen reagieren auf Sulfite.

Wie viel Zusatzdarf sein?

Zugunsten der Zusatzstoffe muss man zwar anführen: Auch „natürliche“ Lebensmittel können zu gesundheitlichen Problemen wie Unverträglichkeiten führen. Und auch „natürliche“ Lebensmittel sind die Ergebnisse chemischer Prozesse: Schon mal die Verarbeitung von Bier oder Margarine beobachtet? Die Vorsicht gegenüber E-Nummern lässt sich aber – abseits der Zweifel gegenüber Zulassungsverfahren und dem Einfluss der Industrie auf die EU-Politik – mit der Anhäufung von Zusatzstoffen im Körper untermauern. Zusatzstoffe werden mit dem sogenannten ADI-Wert bemessen, dem „acceptable daily intake“, also mit der Aufnahmemenge, die pro Tag als vertretbar gilt. Der Farbstoff Amaranth (E 123) etwa hat einen relativ niedrigen ADI von 0,15 mg/kg Körpergewicht. Wenn ich mit 56 Kilogramm jeden Tag meines Lebens nicht mehr als 8,4 mg E 123 zu mir nehme, sollte ich auf der sicheren Seite sein – sollte, denn immerhin ist Amaranth z.B. in den USA als potenzieller Auslöser von Pseudo-Allergien nicht für Lebensmittel zugelassen. Über viele der Stoffe sind sich Wissenschaft und Politik uneins.
Der ADI funktioniert allerdings nicht wie ein Grenzwert. Wer ihn ab und an überschreitet, bringt nicht sofort seine Gesundheit in Gefahr. Doch je nach Ernährungsgewohnheit kann der Einzelne durch verschiedene Produkte in größerer Menge bestimmte Zusatzstoffe aufnehmen. Vor allem Menschen, die sich gerne von wenigen, geliebten Produkten ernähren, können gewissermaßen ungewollt überdosieren. Und welches Kind greift nicht gerne zu häufig in die Chipstüte, hat aber ein geringeres Körpergewicht und deswegen eine niedrigere Toleranzgrenze für potenziell schädliche Substanzen?

Die EU prüft neu

Auch wegen des regierenden Misstrauens bewertet die EFSA bis 2020 alle Substanzen neu. Das hat bereits in den letzten Jahren zu niedrigeren ADI-Vorgaben für manche Lebensmittel geführt – aber auch dazu, dass z.B. der Farbstoff Rot 2G (E 128) nicht mehr zugelassen ist. Es zeigte sich, dass die Substanz kanzerogen sowie schädlich für das Erbgut sein könnte. Bis dato steckte Rot 2G in Würstchen und Hackfleisch, aber auch heute noch in manchen Kosmetika. Schließlich verbergen sich Zusatzstoffe auch in anderen Alltagsprodukten.
Zu denken geben auch neuere Studien aus der Gastroenterologie. Es mehren sich Hinweise, dass Zusatzstoffe mit den immer häufiger auftretenden Darm- und Verdauungsproblemen unserer Zeit zu tun haben – von Reizdarm bis Colitis ulcerosa.
So weisen Studien der George State University in Atlanta darauf hin, dass gängige Emulgatoren erheblichen negativen Einfluss auf die Darmflora haben. Wissenschaftliches Fazit: Es müssen dringend mehr Langzeitstudien her. Doch dass die EFSA genügend von solchen bis Abschluss ihrer Neubewertung heranziehen kann, ist fraglich.

Wie also essen?

„Chemophobe“ Panik ist angesichts von E-Nummer nicht nötig. Und trotzdem legen diese Entwicklungen nahe, dass Zusatzstoffe nicht so sicher sind, wie manche Behörden uns weismachen möchte. Aber seien wir ehrlich: Zusatzstoffe sind vor allem in hochverarbeiteten Lebensmitteln enthalten. Und dass Fertigpizzen, Chips und Toastbrot keine Goldgruben für unsere Gesundheit darstellen, ist uns schon aus anderen Gründen klar. Wer das Risiko der Substanzen umgehen möchte, kann eines tun: selbst kochen. Und da sich z.B. auch auf den Schalen von Gemüsen oder in Säften Zusatzstoffe verbergen können, sind Bio-Produkte die bessere Alternative. Laut EG-Öko-Verordnung sind nur 53 Zusatzstoffe erlaubt, einzelne Hersteller wie Bioland und Demeter schränken noch stärker ein. So enthalten Bio-Produkte gegenüber konventionellen Lebensmitteln maximal ein Zehntel der E-Nummern.
Die junge Frau im Supermarkt hat die Fertigpizza übrigens vermutlich verspeist und keine weitere Nebenwirkung verspürt als das Gezeter ihres Freundes. Ich aber habe das Glas E-Nummern-gewürzter Cocktailkirschen doch lieber zurückgestellt. Am Obststand gab es nämlich frische.

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