Armut als Gesundheitsrisiko
Was womöglich weniger bekannt ist: Auch in den wohlhabenden Industrienationen hat der Geldbeutel Einfluss darauf, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir unseren 80. oder gar 90. Geburtstag erleben – auch, weil ärmere Menschen leider häufig einen schlechteren Zugang zu Bildung haben, was ein weiteres Gesundheitsrisiko darstellt. Zu diesem Schluss kam bereits eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die 2012 unter dem Titel „Folgen unzureichender Bildung für die Gesundheit“ veröffentlicht wurde, und die oben erwähnte Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung bestätigt dies. Die Gründe sind vielfältig: Wer wenig verdient oder arbeitslos ist, wohnt z.B. häufig in Wohngegenden mit geringer Lebensqualität: wenig Grün, wenige Sport- und Freizeitmöglichkeiten, dafür mehr Kriminalität und eine geringere Ärzt*innendichte. Außerdem verursachen Geldnöte, Existenzängste, sozialer Ausschluss oder mehrere kraftraubende, seelisch wenig erfüllende Nebenjobs einen Stress, der sich massiv auf die körperliche und seelische Gesundheit schlagen kann, auch weil der psychische Druck deutlich öfter als in reichen Schichten mit Zigaretten oder Fastfood kompensiert wird. Viele Sportarten erfordern außerdem Ausrüstungen, Mitgliedsbeiträge, Fahrtkosten oder Ähnliches, die sich mit einem niedrigen Einkommen nur schwer oder gar nicht vereinbaren lassen. Gleiches gilt für medizinische Zusatzleistungen. Und zu guter Letzt fehlt es bei Menschen mit eher niedrigem Bildungsstand häufig schlicht am Wissen darüber, was einen gesunden Lebensstil ausmacht. Die Folgen all dieser Faktoren sind unter anderem Übergewicht, Bewegungs- und Nährstoffmangel. Kurz: Arme sind mehr Gesundheitsrisiken ausgesetzt als Reiche, erleiden häufiger einen Herzinfarkt, bekommen öfter Diabetes oder werden lungenkrank. Was neben der erhöhten Sterblichkeit auch bedeutet, dass die Lebensqualität ärmerer Senior*innen in der Regel deutlich geringer ist als bei ihren wohlhabenderen und gebildeteren Altersgenoss*innen. Komplex wird es beim Thema Alkohol: Grundsätzlich ist er in den „höheren Schichten“ weiter verbreitet, insgesamt greifen dort mehr Menschen regelmäßig zur Flasche – allerdings, so das Ergebnis einer im Fachblatt „PLOS Medicine“ veröffentlichten europäischen Studie, weisen ärmere Kreise prozentual eine größere Anzahl an Alkoholtoten auf, was unter anderem an dem dort stärker verbreiteten „problematischen Trinkverhalten“ (z.B. „Komasaufen“) liegen soll. Vermutlich nutzen arme Alkoholiker*innen außerdem seltener die Möglichkeit einer Psychotherapie.
Beim Blick auf die Industrienationen ist die Kluft zwischen lang lebenden Reichen und früh sterbenden Armen in den USA besonders groß: In der Berlin-Institut-Studie wird ein US-Forschungsprojekt erwähnt, für das die Wissenschaftler*innen das Land anhand verschiedener sozioökonomischer Indikatoren in acht verschiedene Gruppen unterteilt hatten – mit erschreckendem Ergebnis: „Zwischen dem am besten und dem am schlechtesten aufgestellten dieser ,acht Amerikas‘ klaffte ein Unterschied bei der Lebenserwartung von 15,4 Jahren für Männer, 12,8 Jahren für Frauen.“ In Deutschland sind diese Unterschiede nicht ganz so ausgeprägt, doch auch hier gilt, wie ein Beitrag aus der ARD-Sendung Panorama 2017 so traurig wie treffend hieß: „Wer wenig hat, ist früher tot“. Der Bericht beruft sich unter anderem auf eine Studie des Robert-Koch-Institus, der zufolge armutsgefährdete Männer (mit einem maximalen monatlichen Nettoeinkommen von 942 Euro), im Schnitt 10,8 Jahre früher sterben als wohlhabende (Nettoeinkommen ab 2355 Euro monatlich): Sie werden statt 80,9 im Schnitt nur 70,1 Jahre alt. Für die Frauen gilt eine Differenz von 8,4 bzw. eine Lebenserwartung von 76,9 Jahren und 85,3 Jahren. Woher übrigens die weltweit vorhandenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern kommen – überall leben Frauen länger – lässt sich nur schwer erforschen, vermutet werden jedoch zum einen biologische Gründe: Einiges deutet z.B. darauf hin, dass ein doppeltes X-Chromosom, wie es Frauen besitzen, sie vor Krankheiten schützt. Auch Hormone sind als „Schuldige“ im Gespräch. Daneben scheint der Lebensstil von Männern diese früher sterben zu lassen. So trinken sie etwa mehr Alkohol als Frauen, rauchen mehr, ernähren sich ungesünder, neigen im Straßenverkehr zu riskanterem Verhalten und gehen seltener zum Arzt. Untermauert wird die These vom Lebensstil als Ursache auch dadurch, dass die Lücke kleiner wird, seit (und wo) sich das Männer- und Frauenbild angeglichen hat.
Schon gewusst? Durschnittsalter in verschiedenen Ländern (vgl. Heft):
Japan: 85,0
Männer 81,7, Frauen 88,5
Afghanistan: 51,3
Männer 49,9, Frauen 52,7
Tschad: 50,2
Männer 49,0, Frauen 51,3
Deutschland: 80,8
Männer 78,3, Frauen 83,2
Schweiz: 82,6
Männer 80,3, Frauen 85,0
Österreich: 81,5
Männer 78,9, Frauen 84,3