Bin ich schön?

Kommt drauf an – etwa darauf, wo ich mich gerade befinde. Denn was bei uns bemängelt wird, gilt anderswo auf der Welt womöglich als Ideal. Über das Attraktivitätsempfinden in verschiedenen Kulturen.

Autorin: Carmen Schnitzer

„Wer schön sein will, muss reisen“, stellte die vieltalentierte einstige TV-Größe Tine Wittler vor einigen Jahren fest, als sie für den gleichnamigen Film sowie das gleichnamige Buch in den westafrikanischen Wüstenstaat Mauretanien fuhr, wo füllige Frauen wie sie als besonders begehrenswert gelten und statt Diätpillen mitunter „mästende“ Medikamente geschluckt werden. „Wer schön sein will, muss reisen“, das bemerkte auch ich selbst, als ich während meiner zweimonatigen Auszeit auf Bali immer wieder von Einheimischen für meine Haut gelobt wurde –die sei so schön hell, wie wunderbar! Ein Kompliment, das mich daran erinnerte, dass die indonesische Sonne mir zu meinem Bedauern noch nicht den karamellfarbenen Teint meines jeweiligen Gegenübers beschert hatte, den ich so erstrebenswert fand. Verrückt! Und immer verrückter, je länger man drüber nachdenkt. Diese beiden Beispiele bestätigen das gern zitierte Sprichwort „Schönheit liegt im Auge des Betrachters“, das ausdrückt, wie abstrakt und bis zu einem gewissen Punkt individuell das ist, was wir als schön empfinden. Besagter Betrachter ist geprägt von vielem – unter anderem der Familie, in der er aufgewachsen ist, dem Umfeld, in dem er sich privat und beruflich bewegt, der Zeit, in der er lebt, und natürlich auch der Kultur, der er angehört. Für die Betrachterin gilt natürlich dasselbe. In der Ausgabe 5/14 des VEGGIE JOURNALs (nachbestellbar unter veganworld.de/shop) hatte ich schon mal den Zusammenhang zwischen Schönheitsempfinden und Esskultur im Wandel der Zeit analysiert und festgestellt, dass das, was wir als schön empfinden, häufig damit zu tun hat, welches Aussehen nach materiellem Reichtum und gesellschaftlicher Macht aussieht. Das gilt in weiten Teilen nicht nur für die Schönheitsideale in unterschiedlichen Zeitaltern, sondern auch in unterschiedlichen Kulturen – und führt mitunter zu fast schon paradoxen Sichtweisen, wie man an meinen Bali-Begegnungen sehen kann: Dort ist meine helle Haut ein Zeichen dafür, dass ich eine westliche Touristin bin und damit höchstwahrscheinlich um einiges wohlhabender als die meisten Einheimischen. Als ich Ende Februar 2017 ins winterliche Deutschland zurückkehrte, deutete meine dann immerhin etwas gebräunte Haut wiederum darauf hin, dass ich mir einen Urlaub in der Ferne leisten konnte. Sie galt als hübsch: „Ui, wie schön braun du geworden bist!“. Noch vor 100 Jahren hätte mich ein solcher Teint als eine Frau ausgewiesen, die, anders als der vornehm blasse Adel, im Freien arbeiten muss – die also nicht so schön ist. Weil arm. Ein weiteres Beispiel für diese „Schön ist, was reich aussieht“-Gleichung ist das Pflaster, das einige Iraner*innen als eine Art Statussymbol im Gesicht tragen: Hinweis auf eine Schönheits-Operation an der Nase, die sich der*die Träger*in offensichtlich leisten kann. Verschiedenen Berichten zufolge sind solche OPs in keinem Land der Welt so beliebt wie im Iran: Etwa ein Prozent aller Nasen-OPs überhaupt werden dort vernommen, obwohl Iraner*innen nur 0,02 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.

Schönheit als Pflicht?
Allerdings geht es in diesem Fall noch um mehr als ein bloßes „Ich bin wohlhabend“-Signal –und das zeigt auch gleich, wie komplex das Thema Schönheit ist und dass die Zusammenhänge dann gar so simpel auch wieder nicht sind. Besonders Frauen drücken im Iran mit einem „nose job“ auch aus: Ich bestimme selbst über meinen Körper. Ich nehme mir inmitten meiner Unfreiheit ein Stückchen Freiheit heraus. So zumindest die eine Theorie. Eine andere kommt eher zu einem gegenteiligen Schluss: Sich um die Schönheit zu kümmern sei – besonders für Frauen – eine Art göttliche Pflicht, die unter anderem zur Stabilität von Ehen beitrage. Puh, da soll mal eine*r durchblicken! Gesellschaftliche Strömungen und kulturelle Werte scheinen jedenfalls ebenfalls zur Wahrnehmung von Attraktivität beizutragen, was z.B. erklärt, warum in Zeiten weiblicher Emanzipationsbewegungen das Schönheitsideal androgyner wurde, man denke z.B. an die schmalen Schönheiten mit Bubikopf im Berlin der 1920er-Jahre. Tatsache ist: Aussehen scheint nahezu immer und überall eine Rolle zu spielen, die Sehnsucht danach scheint eine urmenschliche zu sein – und neben vielen Unterschieden gibt es durchaus epochen- und kulturübergreifende Merkmale, die gemeinhin als attraktiv wahrgenommen werden: (fast) symmetrische Gesichtszüge etwa oder makellose Haut. Auch scheint es, das zeigen zahlreiche psychologische Studien, wie in der bildenden Kunst ein als ideal empfundenes Proportionsverhältnis zu geben, eine Art „goldenen Schnitt“ für Gesichter und Körper, bei dem z.B. das ideale Verhältnis Nasen- zu Mundbreite 1:1,6 beträgt und das von Taille zu Hüfte 1:0,7 (Frauen) bzw. 1: 0,9 (Männer). Pauschal lässt sich sagen: All das sind Aspekte, die auf Gesundheit und Fruchtbarkeit schließen lassen. Aber auch: auf Durchschnittlichkeit! Das mag einerseits erstaunen, unterstreicht aber andererseits auch, dass unser Hirn Schönheit oft mit Gesundheit gleichsetzt, verspricht ein annähernd „prototypischer“ Mensch doch wenig genetische Mutationsgefahr. Schon 1878 war der britische Naturforscher Francis Galton, ein Cousin von Charles Darwin, auf dieses Phänomen gestoßen, als er eigentlich auf der Suche nach einem „typischen Verbrechergesicht“ war und dafür die Fotos mehrerer Krimineller übereinander belichtete. Zu seiner Überraschung wurde das Porträt immer „schöner“, je mehr Gesichter er übereinander legte. Oder zumindest hübscher, denn wie der schottische Psychologe David Perrett herausfand, können Hervorhebungen am Durchschnittsgesicht – etwa das leichte Vergrößern der Augen oder das leichte Hervorheben der Wangen – ein Gesicht noch etwas attraktiver machen. Als schön gilt also, was einerseits möglichst „normal“ und andererseits ein bisschen „besser“ aussieht als die Norm. Und hier findet sich womöglich der Schnittpunkt zwischen der Theorie, dass Schönheitsempfinden angeboren ist – wofür auch die Tatsache spräche, dass schon Säuglinge „normschöne“ Gesichter mit größerer Begeisterung und länger betrachten – und der Beobachtung, dass in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Vorstellungen von Attraktivität zu finden sind. Denn was „ein bisschen besser als die Norm“ bedeutet, dürfte Auslegungssache sein.

Harte Arbeit, softer Schein
Neben dem schon angesprochenen Aspekt „Als schön gilt, was Wohlstand ausstrahlt“ lässt sich noch beobachten, dass oft ein Ideal angestrebt wird, das nur mit einigem teils harmlosem, teils erschreckendem Aufwand zu erreichen ist – je nach Kultur und Ethnie kann das den Einsatz von Bleichmittel oder Bräunungscreme, Glätteisen oder Lockenwicklern, falschen Wimpern oder blassrosa Lippenstift, Blondierung oder Ombré-Tönung, Schönheits-OP oder Fitnesstraining, Hungerkur oder Zwangsmästung usw. bedeuten. Am Rande seien hier auch jene ausgefallenen Traditionen mancher Naturvölker erwähnt, die immer wieder in „Skurrile Schönheitsideale“-Listen auftauchen, darunter z.B. die „Tellerlippen“ der äthiopischen Mursi-Frauen oder die„Giraffenhälse“ weiblicher Padaung-Angehöriger in Myanmar. Auffallend ist: Der Aufwand „Ich lege mich unters Messer und zahle jede Menge Geld dafür“ ist hierzulande bei weitem nicht so anerkannt ist wie z.B. im Iran, Südkorea, Brasilien oder den USA. Auch glamouröses Make-up ist hier weniger gefragt. Seit einiger Zeit gibt es in Nord- und Mitteleuropa den Trend zur „Natürlichkeit“, und der steht hier absichtlich in Anführungsstrichen. Denn ganz so „wie Gott sie schuf“ sind die Idole in der Regel nicht, die uns auf Instagram-Profilen, in Zeitschriften oder auf der Kino-Leinwand so entgegenstrahlen. Passend zur Leistungsgesellschaft gilt: Ein schöner Körper und ein schönes Gesicht wollen erarbeitet werden. Andererseits soll er nicht nach Arbeit aussehen, schließlich haben wir mittlerweile gelernt, dass Stress ungesund ist und feiern allerorten die Achtsamkeit. Heißt: Der Körper sollte möglichst fit und sportlich wirken, aber nicht ausgezehrt, das Gesicht frisch, glatt und „ungeschminkt“, aber bitte ohne Augenringe, Rötungen und ähnliche „Makel“. Passend zu Food-Trends wie Clean Eating oder dem immer stärkeren Zulauf, den die Yoga-Philosophie erfährt, sollen auch Gesichter möglichst „pur“ und „echt“ erscheinen. Erreicht wird dies unter anderem durch Make-up in Nude-Tönen, die hierzulande zu den beliebtesten Nuancen zählen. Bis wir dies alles womöglich wieder satt haben und kräftig auf die Pauke hauen wollen – mit schrillen Farben und ausladenden Körperformen, wer weiß. Oder bis wir womöglich erkennen, dass Schönheit in vielen Hautfarben, Körbchengrößen, Frisuren usw. daherkommen kann und dass es nichts Schöneres gibt als Vielfalt. Denn vielleicht ging es dir beim Lesen dieses Textes ähnlich wie mir beim Recherchieren und Schreiben: Je mehr du erfahren hast, desto verwirrter wurdest du angesichts der Widersprüche und unterschiedlichsten Aspekte, die da zur Sprache kamen. Vielleicht denkst du auch an die ein oder andere Person in deinem Leben, deren Schönheit dich immer wieder von Neuem begeistert, obwohl der betreffende Mensch nicht die Merkmale aufweist, die du qua Erziehung, Kultur usw. eigentlich schön finden müsstest. Einfach weil er*sie eben von innen strahlt und etwas besitzt, das man am ehesten mit dem Begriff Charisma beschreiben könnte. Oder weil deine eigenen Augen ihn*sie voller Liebe betrachten, die sich wie ein verschönernder Filter über seine Erscheinung legt. Und das ist vielleicht sogar ein (aufgepasst!) schönes Fazit: Attraktivität lässt sich ebenso wenig komplett erklären und „einfangen“ wie die Liebe.

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