Die Lunge der Erde: Interview mit Rainforest Alliance

Über die Zusammenhänge zwischen Pandemie, Ökosystemen und sozialer Gerechtigkeit – und dem Wettlauf gegen die Zeit. Vegan World im Gespräch mit Nigel Sizer, Chief Program Officer der Rainforest Alliance.

INTERVIEW & ÜBERSETZUNG: ALEXANDER NYM

Die Rainforest Alliance setzt sich weltweit für nachhaltige Landwirtschaft und fairen Handel ein, etwa durch die Schaffung von Lieferkettengesetzen, wie sie derzeit auch in
Deutschland diskutiert werden. Programmleiter Nigel Sizer wuchs in Großbritannien auf, studierte Ökologie und verbrachte für seine Doktorarbeit drei Jahre mit Feldforschung im Amazonas­Regenwald. Nach jahrelangem Engagement in der Umweltpolitik für das World Resources Institute in Washington D.C. – und einem Jahrzehnt praktischer Aufbauarbeit in Indonesien – stieß der Tropenwald­Ökologe zur Rainforest Alliance.

Nigel Sizer: Der Name „VeganWorld“ gefällt mir. An den Themen Ernährung und Gesundheit habe ich großes Interesse, auch persönlich. Ich habe vor ein paar Jahren viel in dem Bereich geforscht und gearbeitet: Die Notwendigkeit eines weltweiten Ernährungswandels. Heute steht das Thema bei meiner Arbeit für die Rainforest Alliance nicht mehr so sehr im Vordergrund, aber ich bin nach wie vor sehr stark daran interessiert und engagiere mich auch privat dafür.

Nun, angesichts der Corona Pandemie treten so einige Dinge ins Schlaglicht der öffentlichen Debatte, die direkt mit dem Regenwald zu tun haben, Stichwort Zoonose (Anm. d. Red.: Übersprung von Krankheitserregern von Tieren auf Menschen) durch Entwaldung, die Verringerung der Lebensräume indigener Stämme und Wildtiere durch Brandrodung, wie sie der brasilianische President Jair Bolsonaro in Brasilien vorantreibt, aber auch die katastrophalen Haltungs- und Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie hierzulande. Wo setzt man da an?
Lass uns einen Schritt zurück machen und eine grundlegendere Frage stellen. In der jahrtausendealten menschlichen Zivilisation hat sich in den letzten Jahrzehnten ein immenses Ausmaß an globaler Arroganz und Hybris ausgebreitet: Die Vorstellung, dass wir – die menschliche Spezies – die Natur irgendwie nicht benötigen würden. Und dass wir kein Teil der Natur seien. Dass wir nicht mit diesen Ökosystemen, die uns umgeben, verbunden wären. Das Auftreten von Covid­19 war eine unglaublich dramatische Erinnerung, dass wir untrennbar mit den natürlichen Systemen um uns herum verwoben sind. Im Zeitraum weniger Monate machte ein natürlich vorkommendes Virus, wahrscheinlich durch eine Fledermaus irgendwo im Südwesten Chinas, den Übersprung zum Menschen, und die ganze Welt stürzte ins wirtschaftliche Chaos. In wenigen Monaten. Wegen einer Fledermaus, eines Menschen, und etwas, das auf halbem Wege dazwischen passierte.

Was ist die Lehre daraus?
Wenn wir die natürliche Welt um uns herum und unsere Beziehung zu ihr nicht verstehen, und die außerordentliche Verantwortung, die wir aufgrund unserer Macht und unserer Technologie tragen, dass wir absolut katastrophale Konsequenzen zu erleiden haben werden. Das wird am traumatischsten werden und liegt jenseits dessen, was viele Menschen sich vorstellen können. Der stetige Klimawandel und seine absehbaren Folgen werden übler sein als diese Pandemie. Er geht schleichender voran, dauert länger, bis er in Erscheinung tritt und deswegen gibt es keine derart dramatischen Reaktionen darauf. Aber: Im Grunde sind wir momentan an einem außergewöhnlichen Punkt, denn immer mehr, Millionen Menschen beginnen, mehr und anders darüber zu nachzudenken als bisher.

Welche Rolle spielt der Regenwald dabei?
Nun, der Amazonas ­Regenwald, der größte auf der Welt, hat das Ausmaß der gesamten Kontinental­ USA. Er ist sehr wichtig für die Dynamik des gesamten Planeten, und spielt eine absolut lebenswichtige Rolle im globalen Wasser­Zyklus. Der Amazonas­Regenwald ist wie eine gigantische Wasserpumpe; er pumpt jeden Tag Abermilliarden Liter Wasser in die südliche Hemisphäre, das atmosphärisch weiter getragen wird und als Regen wieder niedergeht, um die Natur und uns Menschen zu versorgen und wachsen zu lassen, über die gesamte südliche Hemisphäre, aber vor allem in Latein­ und Südamerika. Da kommt die Entwaldung ins Spiel: Die Verödung schreitet vor allem im Osten und Süden Brasiliens voran, wir nennen das den „Entwaldungsbogen“ (Arc of Deforestation). 20 Prozent des Waldes sind bereits verschwunden, und das bedeutet eine Störung dieses hydrologischen Zyklus. Der Amazonas beginnt auszutrocknen, weil der Ostwind salziges Wasser vom Meer zu den gerodeten Flächen trägt.

… was diese noch weiter ausdörrt
und die Erosion voran treibt. Dann verdunstet es wieder, regnet östlich und westlich davon ab, und wir trennen sozusagen den Teil dazwischen heraus. Wir stehen recht kurz vor dem, was man „Tipping Point“ (Umschlagspunkt) nennt, und dem „Amazon Die Back“ – der Punkt, ab dem das Ökosystem des gesamten Amazonasbeckens zerreißt. Das ist, denke ich, der nächste dramatische Wendepunkt, den wir vor uns sehen, wenn wir uns nicht um das wichtigste Ökosystem auf der Erde kümmern. Blicken wir auf dieriesigen borealen Wälder, also die in Nordamerika, Kanada, Skandinavien, Russland, sehen wir die Auswirkungen des Klimawandels: Austrocknung und Erwärmung der Wälder, Erkrankungen können sich leichter ausbreiten und höher auf die Bäume klettern, was zu mehr trockenen Stoffen und zu Boden fallenden Resten führt. Zusammen mit wärmerem Wetter und trockenen Windböen bewirkt das die massivsten Störungen des borealen Ökosystems, die wir in den letzten Jahren zunehmend beobachten mussten: Gigantische Waldbrände in der nördlichen Hemisphäre. Etwas weniger offensichtlich, weil solche Wildfeuer, anders als im Amazonas, Bestandteil dieses Ökosystems sind, aber nur zu einem kleinen Teil, und nicht in dem Ausmaß der letzten Jahre. Je größer diese Feuer sind, umso stärker greifen sie in das Ökosystem dieser Regionen ein, einem weiteren „Tipping Point“. Das sind die drängendsten ökologischen Problembereiche,neben einigen anderen.

Erinnern uns die Überlegungen, wie mit der Pandemie umzugehen sei, dass wir eine bessere Balance entwickeln müssen?
Ja, sei es unsere Ernährungsweisen betreffend oder unsere landwirtschaftlichen Systeme. Und die Impulse für die Lösung solcher Probleme stecken in diesen natürlichen Systemen, wo die Natur seit Jahrmillionen experimentiert. So was wird man nicht in ein paar Monaten im Labor reproduzieren; es zeigt unsere beachtliche Arroganz, zu glauben, dass wir das könnten. Der Amazonas in seinem Naturzustand, der Kongo, Borneo, Papua … Im Urzustand wachsen sie und absorbieren Kohlenstoff aus der Atmosphäre. Historisch gesehen stellen sie, wie auch die Ozeane, eine Art Rückversicherung gegen unsere Exzesse dar, was den Ausstoß von Treibhausgasen angeht. Wenn der Amazonas kippt, und mehr Treibhausgase produziert, als er absorbiert, verlieren wir nicht nur seine hilfreiche Absorptionswirkung, sondern drehen sie um zu einem weiteren Beschleunigungsfaktor des Klimawandels – ein weiterer „Tipping Point“, ebenso wie in Sibirien, mit den frei werdenden Gasen und Waldbränden. Wir müssen uns gut um diese Wälder kümmern; sie sind uns eine immense Hilfe im Umgang mit dem Klimawandel.

Ignorieren wir sie, verschärfen wir also die Problematik massiv, und Gegenmaßnahmen wie die Energiewende werden wesentlich schwieriger und teurer werden?
Ja, und noch ein abschließender Punkt: Diese Wälder sind die Heimat für Hunderte traditioneller Kulturen und Gemeinschaften. Sie haben das verbriefte Recht, dort zu leben und diese Ressource zu managen. Im nationalen Recht, und erst recht nach internationalem. Wenn also Länder wie Brasilien versuchen, das zu unterlaufen, was derzeit massiv geschieht, handeln sie nach internationalem Recht illegal. Die Indigenen dort haben nicht die Macht, sich dagegen zu wehren; dabei sind es Brasilianer, die in diesen Wäldern leben, denen es gebührt, dass sie von ihrer Regierung anerkannt und geschützt werden, so wie alle anderen Bürger auch. Und die wichtigste Funktion jeder Regierung ist die Sicherstellung der Gesundheit und Sicherheit ihrer Bevölkerung. Daher, denke ich, gibt es einen sehr starken moralischen, justiziellen und empathischen Imperativ, anzuerkennen, dass Menschen in diesen Ökosystemen leben, und das schon seit vielen Generationen, und dabei was die Waldpflege angeht, einen ziemlich guten Job gemacht haben. Sie schaden den Wäldern weit weniger als die Eindringlinge von außerhalb. Viele von ihnen ziehen es sogar vor, in Isolation zu leben und keine Kontakte mit der Außenwelt zu pflegen. Anders als Bolsonaro haben das bisherige Regierungen auch zunehmend berücksichtigt.

Da sind grundsätzlich unterschiedliche Wertesysteme im Konflikt. Einerseits die auf Subsistenzwirtschaft basierenden Indios, andererseits der auf Ressourcenverwertung ausgelegte Wachstum der globalen Profitmaschinerie, die den Planeten entwaldet, verdunstet und erhitzt. Werden wir in zwei, drei Jahrhunderten Klimabedingungen wie auf der Venus haben?
Wir müssen nicht mal bis zur Venus schauen. Auf der Erde genügt eine Erwärmung von drei, vier Grad, was der Weg ist, auf dem wir uns in diesem Jahrhundert befinden,
womöglich sogar mehr. Wir wissen, dass das ausreicht, um manche Regionen des Planeten für menschliches Leben schlicht zu heiß zu machen. Wir wissen, dass es in
den Wettersystemen zu Störungen kommen wird, die bewirken, dass bis dato landwirtschaftlich genutzte Flächen unbrauchbar werden; vor allem durch Änderungen in den Beregnungsmustern. Wir wissen, dass das zu Versorgungsengpässen führen wird. Wir wissen, dass der Meeresspiegel steigt, was erst zur Versalzung riesiger Gebiete in Küstennähe führen wird, und dann zu deren Überschwemmung, etwa in Asien, ganz zu schweigen von Städten wie New York. Wobei New York die Ressourcen besitzt, Flutwälle zu errichten und das Grundwasser zu schützen, aber man kann keine Flutmauer um das Mekong­-Delta errichten. Wir werden also zig Millionen Reisbauern sehen, die nicht wissen werden, wo sie hin sollen. Die Folge sind massive Flüchtlingskrisen, wie wir sie jetzt schon in Afrika und Syrien sehen, wo die Fluchtursachen teils auch klimabedingt sind. Wir sehen auch, welchen Druck das für das politische System Europas bedeutet und welche Folgen sich jetzt schon zeigen. Dabei ist das sozusagen nur die Vorspeise von dem, was noch vor uns liegt, wenn die Leute nicht mehr wissen, wo sie hin sollen. Natürlich sucht man irgendwo nach Hoffnung und Hilfe, und erblickt diese jenseits des Mittelmeers in Europa oder von Mittelamerika aus, welches die klimatisch empfindlichste Region Amerikas ist, im Norden des Kontinents. Dort findet bereits die meiste illegale Migration statt, und das hat auch hier (in den USA) den politischen Diskurs beeinflusst.

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