Sozialer Schmierstoff
Schließlich sind Rituale auch ein gesellschaftlicher Kitt. Wir schütteln einander die Hände zur Begrüßung, wir stoßen auf Geburtstagskinder an und bewundern das Feuerwerk zu Silvester. Dadurch, dass gewisse Abläufe vorgegeben sind, gewinnen wir – und damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt unserer Betrachtungen – Sicherheit. Wir müssen nicht jedes Mal neu überlegen, wie wir miteinander umgehen sollen. Indem wir Rituale mit einer Gruppe teilen, versichern wir uns der Zugehörigkeit zu dieser – eine Tatsache, die auch solche Dinge wie Brauchtum, Tradition oder Sitten auszeichnet. Tatsächlich sind die Übergänge häufig fließend. Was Rituale besonders auszeichnet, ist in der Regel der hohe Symbolwert, der transzendentale Aspekt und die feierliche Inszenierung, die sich häufig theatralischer Elemente bedient. Etwa dadurch, dass Gegenstände ins Zentrum gestellt werden und ihnen eine besondere Bedeutung verliehen wird.
Ein sehr beliebtes rituelles Hilfsmittel sind hierbei immer wieder Kerzen. Vermutlich, weil sie in ihrer Schlichtheit und Verfügbarkeit so viel vereinen, was unsere Welt ausmacht und damit eine symbolische Aufladung geradezu herausfordern: Da ist die Flamme, die Licht und Wärme spendet, mit der man aber vorsichtig umgehen muss, weil sie sonst auch zerstören kann. Dann das Wachs, das irgendwann fast weggeschmolzen ist und damit die Flamme zum Erlöschen bringt … Man braucht nicht viel Fantasie, um Parallelen zum Leben selbst zu finden.
Streng genommen lässt sich nach dieser Definition darüber streiten, ob für Alltagsrituale wie die eingangs genannten der Begriff überhaupt passend ist oder ob es sich hierbei um schlichte Gewohnheiten handelt. Doch die „Heiligkeit“ einer Handlung liegt eben mitunter im Auge des Betrachters – oder erschließt sich erst, wenn sie auf einmal entfällt. Apropos: Mit dem Wort Ritual bezeichnete man ursprünglich einen Gottesdienst, wer es kennt und an ihm teilnimmt, ist „eingeweiht“. Und tatsächlich haben viele Rituale ihren Ursprung im Religiösen – wobei sich immer wieder weltliche Aspekte damit mischen, siehe etwa der ursprünglich vermutlich heidnische Weihnachtsbaum, der hierzulande untrennbar zum eigentlich christlichen Fest gehört.
Überhaupt ist dies eine weitere Grundeigenschaft von Ritualen: die ständige Durchmischung, der stete Wandel. Zwar zeichnen sie sich, wie bereits erwähnt durch die Wiederholung des Immergleichen aus und geben durch diese Vorhersehbarkeit der Dinge Halt – doch sind sie dabei nicht starr und für alle Zeiten festgelegt, sondern erfahren fortwährend kleine Änderungen – wie ein ruhiger Fluss, der uns durchs Leben trägt. Oder wie die Welt an sich. Und so haben sich mit sinkender Bedeutung der Religion in unserer Gesellschaft auch die Rituale gewandelt oder deren Bedeutungen verschoben. Ein erstaunlicher Aspekt bleibt: Man braucht keinen Glauben an eine höhere Macht, damit Rituale funktionieren. Sie können uns dennoch berühren und tragen. Was man bedauerlich finden kann – oder auch wunderschön. Faszinierend ist zudem, dass diese Brückengeländer des Lebens nicht beschließbar sind, nicht neu kreierbar. Zum Ritual wird eine Handlung erst im Lauf der Zeit, ein Ritual ist immer alt, zeichnet sich dadurch aus, dass es zu einem solchen geworden ist und dabei eine ganz eigene Dynamik entwickelt hat.
(weiter auf Seite 4)