Dringend gebraucht: die Renaissance der Bäuerin

Frauen dringend gebraucht: die Renaissance der Bäuerin

Frauen und Landwirtschaft

Die Menschheit wächst, die Nahrungsknappheit auch. Doch würden traditionelle Geschlechterrollen in der Landwirtschaft überwunden, könnte dies die Welt verändern – und weniger Menschen müssten hungern.

Beeindruckende 7,5 Milliarden Menschen leben auf unserem Planeten. 11,2 Milliarden sollen es im Jahr 2100 sein. Da stellt sich die Frage: Wie werden wir noch alle satt? Schon heute muss jeder neunte Mensch abends mit leerem Magen zu Bett gehen. Auch im 21. Jahrhundert ist der Hunger noch einer der großen Meister, wenn es darum geht, Menschen dahinzuraffen. Er fordert jährlich mehr Todesopfer als drei der bedrohlichsten Krankheiten – AIDS, Malaria und Tuberkulose – zusammen. Dabei gäbe es einen Weg, ihn effektiv zu bekämpfen – wäre eine bestimmte Gruppe in der Lage, ihre Ernteerträge um 20 bis 30 Prozent zu steigern. Das klingt nicht viel? Damit könnten 12 bis 17 Prozent der hungernden Menschen ausreichend versorgt werden – das sind 100 bis 150 Millionen! Und um welche Gruppe geht es? Die Frauen. Doch durch deren Diskriminierung verspielt die Menschheit eines ihrer größten Potenziale, um sich selbst satter zu machen – vor allem durch kleine, oftmals umweltschonendere und sozialfreundlichere Landwirtschaftsbetriebe.

Keine Rechte, kaum Ertrag

Es ist paradox: Indien ist ein Land der starken Frauen. Denken Sie z.B. an Indira Ghandi, die einst diese Nation regierte, an Kalpana Chawla, die erste Inderin im All, oder an die Aktivistin Arundhati Roy. Doch ist die indische Frau Bäuerin, hat sie es schwer, Geld zu verdienen, Land zu besitzen, Saatgut zu kaufen. Denn sie hat kaum Rechte. Und das ist nicht nur in Indien so – obwohl überall auf der Erde Frauen in der Gewinnung unserer Nahrungsmittel eine zentrale Rolle spielen, ob auf den Viehweiden Afrikas, den Reisfeldern Asiens oder mitten in der technisierten Agrikultur Europas. Durchaus richtig ist also nach wie vor das Klischee des Heimchens am Herd: Es gibt Studien, die zeigen, dass es zu 90 Prozent die Damen sind, die ihre Zeit dafür einsetzen, Essen zuzubereiten. Aber eben keineswegs nur in der Küche, sondern auch auf dem Hof, auf dem Acker, in den Ställen, in der Lebensmittelfabrik. Ihr weltweiter Anteil liegt, berechnet die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), in den Sektoren Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion bei 43 Prozent – und in den Entwicklungsländern arbeiten dort sogar 79 Prozent. Und die Zahlen steigen. Mittlerweile sprechen Experten von einer regelrechten „Feminisierung der Landwirtschaft“. Denn die Zahl der Haushalte, die unter weiblichem Regiment stehen, steigt infolge von Bürgerkriegen und Migrationswellen, aber auch infolge von Krankheiten wie AIDS.

Da erscheint noch etwas anderes paradox: Trotz dieser Zahlen leiden weltweit mehr Frauen an Hunger als Männer. Doch der Dank, den die Frauen für ihren landwirtschaftlichen Einsatz bekommen, ist bitter, und das Kapitel des Weltagrarberichts über den Stand der weiblichen Landwirtinnen ist erschreckend: Vor allem in Regionen mit niedrigem Lebensstandard bekommen Frauen weniger Gehalt, haben weniger Entscheidungsgewalt als Männer. Dafür belohnt werden, dass sie hart arbeiten? In vielen Ländern gibt es keinen Dank dafür, das Essen zu kochen, Wasser zu holen, das Feuer am Leben zu halten, die Kinder zu hüten. Düngemittel und Saatgut ersteigern? Das Geld dafür liegt oft beim männlichen Vormund, beim Ehemann – und damit außerhalb der weiblichen Verfügbarkeit. Kredite aufnehmen, um Land zu kaufen? Oft haben Frauen noch nicht einmal die Möglichkeit, ein Bankkonto zu eröffnen, geschweige denn die Erlaubnis, rechtmäßig einen Kaufvertrag zu unterzeichnen – wenn sie denn überhaupt je lesen und schreiben lernen durften. Studien der FAO offenbarten, dass Frauen nicht nur seltener als Männer überhaupt Ackerland besitzen, sondern dass jenes dann zumeist wesentlich kleiner ist. Zumeist liegt es an kulturellen und rechtlichen Hindernissen, das Frauen kein Land erben, besitzen und nutzen können. Während in Lateinamerika mit mehr als 25 Prozent noch relativ viel Land in weiblicher Hand ist, sind es im subsaharischen Afrika durchschnittlich nur 15 Prozent – und in Nordafrika und Westasien sogar weniger als fünf Prozent. Und oft ist denn Frauen dann noch nicht einmal erlaubt, ihre Produkte auf eigene Rechnung zu verkaufen. Eine Studie in 97 Ländern erbrachte außerdem, dass nur fünf Prozent aller landwirtschaftlichen Beratungen Bäuerinnen zugutekommen.

Diese Aspekte sind beileibe keine feministische Hetzerei, sondern haben handfeste Konsequenzen. Die Erträge von Bäuerinnen liegen im weltweiten Durchschnitt zwischen 20 und 30 Prozent unter jenen von Männern. Doch nicht, weil sie die schlechteren Landwirte sind. Sondern weil die zumeist kulturell oder gar staatlich oktroyierte Diskriminierung durch traditionelle Geschlechterrollen ihnen die Chancen raubt, besser zu wirtschaften. Und das, obwohl Untersuchungen zeigen, dass es gerade die Frauen sind, die in Krisenfällen – ob Naturkatastrophe, Seuche oder Kriegszustand – freiwillig auf ihr Essen verzichten, um die Überlebenschancen ihrer Familien zu erhöhen. Selbst wenn Landwirtinnen in Entwicklungsländern „es schaffen“, also ein florierendes Unternehmen erschaffen, stoßen sie, laut FAO, oftmals an die Mauern der Ungleichheit: indem Männer ab einer gewissen Betriebsgröße die Entscheidungsgewalt an sich reißen – und oft genug gleich das ganze Unternehmen.

Hilfe kommt nicht an

Klar ist: Derart hohe Ernte-Einbußen ausgerechnet in jenen Regionen, wo Nahrung dringend gebraucht wird – das darf so nicht bleiben. Jene Ungleichheit, wie sie für das weibliche Personal der Landwirtschaft in vielen Regionen dieser Welt vorherrscht, ist nicht nur aus Gründen emanzipatorischer Ideale nicht zu tolerieren, sondern auch deswegen, weil sie der menschlichen Gemeinschaft Schaden zufügt. Alle zehn Sekunden stirbt ein Kind an Unterernährung, oft noch bevor es sein fünftes Lebensjahr vollendet hat. Dieses vermeidbare Leid ist also zunächst ein Imperativ, internationale Förderprogramme für Entwicklungsregionen auszubauen. Und tatsächlich wenden sich einschlägige Hilfsprogramme häufig an Frauen, weil gerade in den ärmsten Bevölkerungsschichten viele weiblich geführte Haushalte zu finden sind. Das Problem: Sie scheitern oft wieder an denselben Widerständen: den traditionellen Geschlechterrollen. Denn diese dominieren nach wie vor das lokale Umfeld – und oftmals auch die Investitionen der Geförderten. So lässt sich z.B. beobachten dass in bestimmten Regionen Männer das Geld bei der Viehzucht vornehmlich in Rinder und Schweine stecken, während Frauen kleineres Getier wie Hühner und Ziegen bevorzugen. Selbst wenn Studien belegen, dass frauengeführte Haushalte ihren Nutzen aus den Fördergeldern ziehen, indem sie mehr in Nahrungsmittel, Gesundheit, Bildung, Kinderkleider und -ernährung investieren, kommen die Geförderten nicht gegen jene sozialen Normen an, die vor Ort vorherrschen, und oft genug Frauen benachteiligen.

Und auch in jenen Fällen, in denen Hilfsprogramme sich an Frauen in männergeführten Haushalten als direkte Nutznießerinnen wenden, sehen die Ergebnisse eher lau aus. Gerne wird unterstellt, dass die Frauen durch die Unterstützung ermächtigt werden, mehr Einfluss und Wirtschaftskraft zu bekommen. Doch zu oft kontrollieren die Ehemänner, wie die Einkünfte ihrer Gattinnen ausgegeben werden – selbst wenn es sich dabei um direkte Zuwendungen aus Hilfsprogrammen handelt. Zu oft kommen auch hier die Frauen trotz Geld nicht gegen die eingeschränkten Möglichkeiten an, Ausbildung zu genießen, gesellschaftlich Einfluss zu nehmen oder selbstständig über Ressourcen zu verfügen. Im Vergleich zwischen zwei Ländern zeigt sich, wie groß die gesellschaftlichen Widerstände trotz finanzieller Unterstützung sind: In Brasilien, wo Frauen das gesetzliche Verfügungsrecht über Zuwendungen aus Hilfsprogrammen besitzen, ließ sich ein deutlicher Anstieg ihrer Verhandlungsmacht verzeichnen. Nicht so in Indien, wo Frauen trotz Geld „in den Taschen“ nicht mehr Entscheidungsgewalt ausüben konnten.

Geld allein löst keine Probleme

Oft genug stehen den Hilfsbemühungen verschiedener Organisationen, die sich speziell an Frauen in Armutsregionen wenden, auch ganz banale Probleme entgegen: Zum Beispiel wenn gar keine individuellen Bankkonten der Empfängerinnen existieren und jene die Gelder nicht selbst kontrollieren können. Finanzhilfen allein reichen für die Frauen also nicht, sie reichen auch nicht, die landwirtschaftlichen Einbußen aus der Diskriminierung von Bäuerinnen aufzuholen. Wie aber lässt sich Gleichberechtigung absichern, am besten rechtlich verankern und durchsetzen? Und wie kann vermieden werden, dass das Auflockern überlieferter Geschlechterbilder als Einmischung, als aggressives Beharren auf „westlichen Werten“ und letztlich als eine Art kultureller Imperialismus missverstanden wird? Es gilt, Impulse zu setzen – wenngleich mit großer Sensibilität und interkultureller Kompetenz. Die Welternährungsorganisation FAO fordert, dass Hilfsprogramme nicht nur entscheiden, wo investiert wird, sondern die finanziellen Bemühungen auch von langfristigen sozialen Schutzmaßnahmen begleitet werden müssen. Das heißt nicht anderes, als Sicherungssysteme zu schaffen, an welche die Fördermaßnahmen gekoppelt sind, um die Entwicklung des weiblichen Wirtschaftspotenzials, die Teilnahme an der Märkten und auch an politischen Entscheidung zu unterstützen. Seit einigen Jahren sind sogenannte „Conditional Cash Transfer“-Programme das Mittel der Wahl, also Zahlungen, die an das Erfüllen bestimmter Bedingungen geknüpft sind. Arme Haushalte werden mit Geld unterstützt, wenn sie z.B. gewährleisten, dass Kinder in die Schule gehen, Impfungen durchführen oder Schwangere zur Vorsorgeuntersuchung schicken. Es gibt diese Programm bereits in über 60 Ländern, darunter Nationen wie Brasilien und Mexiko, wo insgesamt über 150 Millionen Menschen finanzielle Hilfe vermittelt wird – und die Resultate scheinen vielversprechend. Doch es gibt auch andere Projekte, die nicht vom Westen oder der Weltgemeinschaft initiiert wurden, sondern in den betroffenen Regionen selbst aufkamen. Ein Beispiel ist das bereits 1972 gegründete Netzwerk SEWA, die indische Vereinigung der selbstständigen Frauen. Sie führt über 2000 lokale Selbsthilfegruppen zusammen. Ziel der Mitglieder: ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern – und damit auch die ihrer Familien. SEWA verzeichnet ein optimistisch stimmendes Resultat: Man benennt eine Vervielfachung der Einkünfte und eine merkliche Vergrößerung des Landes, das in Besitz von Bäuerinnen ist.

Doch selbst, wenn man sich dem Optimismus hingibt, steht fest: Wandlungsprozesse, die eine Renaissance der Bäuerin hervorrufen, indem sie Frauen allerorts in bessere Positionen, gar in eine wirtschaftliche Schlüsselrolle rücken, können weder erzwungen noch schlagartig erzeugt werden. Bis Gleichberechtigung wirklich hergestellt ist, werden nicht Jahrzehnte vergehen, sondern Generationen. Und in Europa sollten wir uns an die eigene Nase fassen: Auch hier ist die Landwirtschaft mit 37 Prozent von den Damen in der Landwirtschaft abhängig. Jeder fünfte Betrieb wird von einer Frau geführt. Doch auch hier sind die Chancen nicht gleichmäßig verteilt: Landwirtinnen haben im Schnitt ein niedrigeres Ausbildungsniveau als ihre männlichen Kollegen. Investieren also auch wir in unsere Landfrauen!

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