Blütenreste vergangener Tage
Verständlich, dass sich längst Wissenschaftler*innen verschiedenster Fachrichtungen dem Thema gewidmet haben – berührt es doch nahezu alle Aspekte unseres Seins. Komplett erforscht ist es jedoch noch lange nicht – und wird es vielleicht auch nie sein. Auch sind einige der bisherigen Forschungsergebnisse umstritten. Etwa die Frage, wann Menschen erstmals bewusst symbolische Handlungen vollzogen haben. Manches lässt darauf schließen, dass dies bereits bei den Neandertalern vor 50.000 bis 60.000 Jahren der Fall war.
So jedenfalls interpretieren manche Forscher*innen z.B. die Funde einiger menschlicher Skelette in Frankreich und dem Nahen Osten. Da diese im Vergleich zu den entdeckten tierischen Überresten nahezu unversehrt waren, ging man davon aus, dass unseren Vorfahren für ihre Toten Gräber angelegt haben. Pollenfunde in der irakischen Shanidar-Höhle könnten überdies darauf hindeuten, dass man die Verstorbenen auf Blumen bettete – wobei eine andere Theorie besagt, die Blütenreste könnten Mäuse als Futtervorrat angeschleppt haben. Zwischen 11.000 und 70.000 Jahre alt sind weitere Ausgrabungen und Funde, die manchen Wissenschaftler*innen als Beweise für die ersten Rituale der Menschheit gelten – eine recht große zeitliche Bandbreite zwar, doch einigen wir uns doch einfach darauf: Wir machen „so was“ offenbar schon ganz schön lange.
Was also haben wir davon? Im Prinzip dasselbe, was wir auch von Inhaltsverzeichnissen, Terminkalendern oder Grammatik haben: Struktur. Das Leben, die Welt, ja jeder einzelne Mensch ist so komplex und vielschichtig, dass uns die Flut an Informationen und Emotionen, die es zu verarbeiten und Entscheidungen, die es zu treffen gilt, schier verrückt machen könnte – hätten wir nicht etwas, an dem wir uns festhalten können, das uns Ruhe und Sicherheit gibt durch seine gleichbleibende Beständigkeit. Das uns signalisiert: Die Welt dreht sich weiter, ich bin geschützt. Von klein auf sind Rituale unsere Begleiter – die Gutenachtgeschichte erleichterte uns als Minis das Einschlafen, die Schultüte den Übergang vom Kindergarten zum „Ernst des Lebens“, und der Abschiedskuss der Eltern milderte die Aufregung vor der ersten Klassenfahrt.
Gerade in Zeiten des Übergangs von einer zur anderen Lebensphase dienen Rituale als kleine Markierungen, die den Lauf der Zeit „bändigen“ und lenken. Neben der Sicherheit und Struktur haben Rituale zudem die Funktion, extreme Gefühle wie etwa Angst oder Trauer zu kanalisieren. Wer etwa einen geliebten Menschen verliert, dem wird der Boden unter den Füßen weggerissen, der sieht sich in einem wilden Meer aus Emotionen gefangen, in dem es keinen Halt zu geben scheint. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Da kann ein Ritual als Stütze dienen. Es ist etwas Vertrautes im Strudel des Ungewissen, etwas, das begreifbar macht, was nicht zu begreifen scheint.
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