Mit 55 blickt Langzeitveganer Moby, der jetzt sein Orchester-Best-Of-Album „Reprise“ veröffentlicht, nicht nur auf ein künstlerisch, sondern auch persönlich extrem vielfältiges Leben zurück.
Interview: Steffen Rüth
Moby, hast du einen typischen Tagesablauf?
Den habe ich tatsächlich. Und ich traue mich es kaum zu sagen: Die Pandemie hat daran so gut wie nicht rütteln können. Ich wache also frühmorgens zwischen 6 und 7 Uhr auf und schaue aus dem Fenster, um zu sehen, wie die Sonne zwischen den Bäumen aufgeht. Dieser Anblick haut mich jedes Mal wieder um, ganz egal, wie deprimiert, traurig oder besorgt ich gerade bin. Dann mache ich mir einen Smoothie und lese die Nachrichten, mache ein bisschen Musik. Irgendwann am späten Vormittag kommt der schönste Teil des Tages: Ich koche mir eine Kanne Tee, setze mich aufs Sofa und lese eine Stunde lang ein Buch. Diese Lesestunde ist mir heilig. Ich weiß, das hört sich an, als sei ich 120 Jahre alt. Doch mich macht dieses Leben glücklicher als die ganzen krassen und degenerierten Erfahrungen, die ich früher gesammelt habe.
Was liest du denn gerade?
Im Moment liegt eine ganze Reihe von wissenschaftlichen und philosophischen Büchern auf meinem Tisch. Mich fasziniert, dass die Welt, in der wir leben, und die wir beobachten, auf einem biologischen Level so gut wie nichts mit der Welt zu tun hat, wie sie wirklich ist. Wir Menschen sehen immer nur einen kleinen, extrem verengten Ausschnitt.
Und das hat Konsequenzen?
Ja, und ob. Die Systeme, die wir als Spezies bauen – kultureller, wirtschaftlicher, politischer Art – basieren auf einem sehr mangelhaften Verständnis davon, wie die Welt wirklich ist. In Sachen Nahrungsproduktion, Energieerzeugung oder vorherrschender Ideologien ist es geradezu herzerweichend zu sehen, wie konsequent die Menschheit daran arbeitet, sich selbst als Lebensform auszuradieren.
Zumindest in politischer Hinsicht scheinen die USA noch einmal die
Kurve gekriegt zu haben.
Ich muss sagen, mein Angstlevel ist sehr viel niedriger, seit wir wieder einen richtigen Präsidenten haben und keinen gewaltverherrlichenden, rassistischen und einfach komplett inkompetenten Tyrannen. Trump war eine der größten Herausforderungen, mit denen wir in den Vereinigten Staaten zu meinen Lebzeiten fertigwerden mussten.
Eine Herausforderung ganz anderer Art dürfte dein neues Album „Reprise“ gewesen sein. Du machst seit über 30 Jahren hauptberuflich Musik, hattest 1991 mit „Go“ deinen ersten Hit, und mit dem Album „Play“ gelang dir 1999 ein Welterfolg. War es immer schon Teil deines Karriereplans, als mittelalter Mann deine elektronischen Dance-MusicHymnen mit einem Orchester neu aufzunehmen? Karriereplan? Es ist witzig, aber etwas, das diesen Namen verdient, hatte ich nie. Als ich aufwuchs, hätte ich es zu keiner Sekunde überhaupt für möglich gehalten, mal von der Musik leben zu können. In den Achtzigern spielte ich in einer Punkband, wir brachten eineSingle heraus und verkauften davon 200 Stück. Das war ein Triumph für mich damals. Ganz sicher hätte ich nie geglaubt, einmal ein Album mit Deutsche Grammophon, dem ältesten und so ziemlich renommiertesten Label auf dem Planeten, zu machen, auf dem ein 150-köpfiges Orchester meine Lieder spielt.
Was hat dich an dem Projekt gereizt, und wer ist auf wen zugekommen?
Eine Mitarbeiterin der Deutschen Grammophon fragte mich vor einigen Jahren, ob ich interessiert sei, meine Songs auf klassische Weise neu einzuspielen. Ich weiß nicht, ob ich selbst darauf gekommen wäre, doch als ich darüber nachdachte und zusagte, merkte ich, wie nah meine Stücke immer schon an orchestralen Produktionen dran waren. Wenn du bei „Natural Blues“ oder „Why Does My Heart Feel So Bad“ die Synthesizer durch ein Piano und die elektronischen Streicher durch leibhaftige ersetzt, dann bist du schon fast am Ziel einer orchestralen Umarbeitung. Gereizt hat mich an dem Projekt insbesondere die Freude daran, ein Album nur mit Stimmen und akustischen Instrumenten zu veröffentlichen. Das war für mich aufregendes Neuland.
Was hat die orchestrale Interpretation mit deinen Songs angestellt?
Sie verschönert. Die Verletzlichkeit und Fragilität dieser Kompositionen treten nun viel deutlicher hervor.
Für „Reprise“ hast du „Heroes“ von David Bowie gecovert. Im zeitgleich erscheinenden Dokufilm „Moby Doc“ erfahren wir, dass ihr nicht nur Nachbarn in Manhattans Little Italy wart, sondern auch gute Freunde.
Ich wollte diesem durch und durch wunderbaren Menschen David Bowie meine Ehre erweisen. Ich konnte es selbst nie richtig fassen, mit ihm befreundet zu sein, mit ihm sogar Weihnachtsfeste zu verbringen. Und „Heroes“ ist für mich einer der drei schönsten Songs, die jemals geschrieben wurden.
Die Szenen mit Bowie sind mit die schönsten in dem Film, der ansonsten mit dem Wörtchen „schonungslos“ noch freundlich beschrieben ist. Wir erleben in „Moby Doc“ deine traumatische Kindheit, erfahren, dass sich dein Vater mit zwei Jahren im Suff totgefahren hat, sind Zeuge deines Aufstiegs zum Weltstar und sehen, wie Drogen, Alkohol und Depressionen dich fast umbringen. Warum wolltest du das zeigen?
Ich verstehe diesen Film als eindringliche Warnung. Vor 15 oder 20 Jahren wäre ich jetzt am Vormittag wahrscheinlich betrunken, high oder verkatert gewesen. Ich bin sehr glücklich, dass ich diese Lebensweise hinter mir lassen konnte. Ich will Alkohol und Drogen nicht kritisieren, nichts ist falsch daran, andere Menschen können das nehmen, und es geht ihnen wunderbar damit. Nur für mich kommt das nicht mehr in Frage.
Weshalb nicht?
Wenn ich trank und Drogen nahm, war ich immer unglaublich egoistisch und selbstsüchtig. Ich fokussierte mich nur darauf, wie ich mich selbst fühlte. Andere Menschen waren mir egal. Ich habe mich nicht um Freunde gekümmert, nicht um meine Familie, es ging mir am Arsch vorbei, wenn ich andere verletzte und enttäuschte.
Du sprichst im Film darüber, dass du die Beerdigung deiner Mutter verpasst hast, weil du total breit warst und einfach verschlafen hast. War das der Tiefpunkt?
Das war einer der Tiefpunkte. Aber nicht der tiefste.
Ein anderes Mal, du hattest gerade den größten Erfolg deiner Karriere,
warst du bei den MTV Awards in Barcelona. Man hatte dir – wie ansonsten nur Jon Bon Jovi und Madonna – eine der Suiten im obersten Stock eines schicken Hotels spendiert. Aber du sagst, das Einzige, was dich in dieser Nacht vom Selbstmord abgehalten hätte, sei die Tatsache gewesen, dass sich die Hotelfenster nicht öffnen ließen.
Ja. So war es. Ich denke, es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Ruhm und
Depression. Viele von uns glauben, wenn wir erfolgreich sind, reich werden, zu den
richtigen Partys eingeladen werden, die richtigen Freunde haben, würde uns das
Glücksgefühle verschaffen. Dieses Glück löst in unserer Vorstellung dann alle unsere
Probleme und repariert unsere seelischen Qualen. Nun: Nein, tut es nicht. Ich hatte
alles, aber bei mir war kein einziges Problem gelöst. Und wenn du das realisierst,
gerätst du in Panik. Du hast ein Leben lang auf etwas hingearbeitet, dein Ziel erreicht,
doch dann wird alles nur noch viel schlimmer. Ich war total hilflos und verzweifelt.
Haben berühmte Menschen ein härteres Leben als andere?
Ich sage nicht, dass sie besondere Sympathie verdienen. Aber sie sind schlecht darin, das Erreichte zu genießen. Ich hatte schon auch meinen Spaß, nicht, dass wir uns falsch verstehen. Verrückte Partys sind super um 2 Uhr nachts oder auch noch um 5 Uhr, aber sie sind schrecklich um 14 Uhr am nächsten Tag.
Irgendwann blieb dein großer Erfolg dann aus. Vermisst du rückblickend die glorreichen, hedonistischen Zeiten?
Nein, ich war lange genug ein selbstverliebter, egoistischer Kerl. Ich gehe heute nicht mehr auf Partys, ich toure nicht mehr, mir fehlt das alte Leben nicht im Geringsten.
Es ist wie mit dem Veganismus. Ich esse nichts Tierisches mehr seit ich 19 bin, und ich vermisse rein gar nichts.
Anders gefragt: Was bereust du?
Nichts. Ich habe eine Reihe von Menschen um Entschuldigung gebeten. Ich bin dankbar für die Erfahrungen. Sie haben mir Einsichten erlaubt, die ich sonst nicht hätte.
Dein heutiges Leben ist das komplette Gegenteil von früher. Du wohnst seit zehn Jahren nicht mehr in New York, sondern in Los Angeles, lebst gesund und sehr zurückgezogen. Bist du ein Mann der Extreme?
Tatsächlich hat mich ein Freund vor Kurzem so genannt. Ich bin trocken, clean,
meide Gesellschaft. Ich kann nachvollziehen, wenn andere Menschen mich und meine Lebensumstände seltsam finden, aber so wie es ist, quasi mönchsähnlich, mag ich mein Leben viel lieber als damals.
Lebst du eigentlich in einer Partnerschaft?
Nein. Ich bin Single. Ich fühle mich wohl damit, im Großen und Ganzen mit
mir allein zu sein. Ich bin gerne mit mir zusammen. Ich finde vieles auf der Welt so faszinierend und belohnend, dass eine Beziehung, dass ehrlich gesagt auch die Liebe zu einem anderen Menschen, für mich nicht so attraktiv und unverzichtbar
ist wie vieles andere.
Wie verbringst du denn lieber deine Zeit?
Wenn ich nicht an meiner Musik arbeite oder lese – alles von Kriminalromanen
bis zu wissenschaftlichen Büchern über Astrophysik oder Genetik – bin ich am liebsten draußen. Ich gehe so gut wie jeden Tag in die Natur, meistens unternehme ich kleinere Wanderungen im und um den Griffith Park herum, in dessen Nähe ich wohne. In den Hügeln klettern, Bäume anschauen, stundenlang Tiere beobachten, das ist mein Leben. Auch wenn es pathetisch klingt: Die Natur hat meine Ängste und meine Depressionen kuriert.
INFO:
Als Richard Melville Hall kommt Moby am 11.09.1965 in Harlem/ New York zur Welt. Der Vater fährt sich im Suff zu Tode, als Moby zwei ist, die Kindheit verläuft turbulent. Trost und Geborgenheit findet er nur bei Tieren und wenn er Musik macht. In den 1980ern spielt er in mehreren Punkrockbands, seinen ersten Hit „Go“, eine Electro-Nummer, hat er 1991 in Großbritannien. Das Album „Play“ wird. 1999 sein größter kommerzieller Erfolg, es macht ihn finanziell unabhängig. Moby bekommt zunehmend Probleme mit Drogen, Alkohol und Depressionen. 2008 wird er trocken, 2010 zieht er von Manhattan nach Los Angeles, wo er heute lebt. Moby ist Single und kinderlos, Sein neues Album „Reprise“ beinhaltet seine größten Hits und einige Raritäten, neu aufgenommen mit dem Budapest Art Orchestra sowie Gästen wie Kris Kristofferson und Gregory Porter in den berühmten EastWest Studios in Los Angeles.
Instagram:
instagram.com/moby
Facebook:
facebook.com/mobymusic
Twitter:
twitter.com/thelittleidiot
Soundcloud:
soundcloud.com/moby
YouTube:
youtube.com/moby
Mehr zu seinem neuen Album findest du unter moby-reprise.com.
Informationen zum Album:
Moby
Reprise
als CD / 2LP / Digital
Deutsche Grammophon, 29,99 €