Schildkröte Oma Trampeltreu ist 64 Jahre alt und lebt als ältestes Tier im Land der Tiere, einem Tierschutzzzentrum zwischen Hamburg und Berlin. Im Interview erzählt Philipp Stechmann, Teil des engagierten Teams, wie gerettete Tiere auf dem ehemaligen Gelände der Nationalen Volksarmee der DDR eine zweite Chance bekommen.
Von: Susann Döhler & Xenia Waporidis
Philipp, wie kann man sich das Leben bei euch vorstellen?
Unser 130.000 Quadratmeter großes Areal ist sehr abwechslungsreich. Neben großen Wiesenbereichen gibt es mehrere kleine Wäldchen, Hügel und Teiche. Je nach den Bedürfnissen einer Tierart schauen wir, wo diese am besten bei uns auf dem Gelände leben kann. Überall ist die NVA-Vergangenheit noch erkennbar! Früher wurde von hier aus der Luftraum gen Westen überwacht. Es gibt noch viele Bunker und bunkerähnliche Gebäude. Diese sanieren wir seit 2014 Stück für Stück, um verschiedenste Lebensräume für gerettete Tiere zu schaffen. Es ist schön zu sehen, wie aus einem früher grauen und beklemmenden Ort ein bunter und lebendiger wird, der für Gewaltfreiheit und ein friedliches Miteinander steht.
Wie sieht der Umbau dann aus?
„Haus #1“ beispielsweise: Das ehemalige Unterkunftsgebäude der NVA-Soldaten haben wir vor einigen Jahren saniert und ausgebaut. Heute leben dort, umringt von zahlreichen Außengehegen, gerettete Hühner, Puten, Kaninchen, Gänse, Enten und andere Tiere. Außerdem befinden sich hier auch die Quarantäne- und Eingewöhnungsorte für Neuankömmlinge. Hinzu kommt ein großer Aufenthaltsraum mit angebundener Küche für Schul-Workshops und Kochkurse. Aktuell bauen wir mit „Haus #2“ ein weiteres altes Gebäude aus, um neue Lebensplätze für noch mehr gerettete Tiere zu schaffen.
Ihr bekommt fast täglich Tierrettungsanfragen. Wie sieht so ein klassisches Hilfegesuch aus?
Täglich melden sich Menschen bei uns, weil sie die unterschiedlichsten Tiere unterbringen möchten. Ein „klassisches Hilfegesuch“ gibt es so nicht. Jede Anfrage ist individuell, meist sind die Menschen sehr verzweifelt. Leider bekommen wir viel mehr Anfragen, als freie Plätze im Land der Tiere zur Verfügung stehen und erteilen oft Absagen. Wenn wir Tiere aufnehmen, stellen wir sicher, dass wir sie personell gut betreuen und räumlich passend unterbringen können. Da wir komplett spendenfinanziert sind, muss auch die finanzielle Versorgung der Tiere gewährleistet sein.
Wie werden tierische Neuankömmlinge eingewöhnt?
Wenn neue Tiere zu uns kommen, werden sie in der Regel zuerst in einem Quarantänebereich untergebracht. Viele der Tiere bringen ansteckende Krankheiten mit, die erst einmal tierärztlich behandelt werden müssen. Neue Tiere stehen unter besonderer Beobachtung. Wenn sie sich eingelebt haben und nicht mehr ansteckend sind, beginnt die Zusammenführung mit anderen Tieren. Dies ist ein besonders schöner Moment für alle, da die meisten diese Art von Freiheit, umgeben von Artgenossen, noch nie erlebt haben und oft richtig aufblühen. Viele Tiere, die ins Land der Tiere kommen, haben vorher noch nie den blauen Himmel gesehen oder Gras unter sich gespürt.
Wie schön! Das klingt nach „Happy End”-Geschichten …
Oh ja! Ein Beispiel ist Hanna mit ihren drei Kindern Pia, Hein und Willi. Hanna war bis zu ihrer Rettung auf engem Raum eingesperrt und wurde viereinhalb Jahre lang als sogenannte „Zuchtsau“ ausgebeutet. In dieser Zeit bekam sie über 100 Ferkel, von denen ihr alle weggenommen wurden. Im Mai 2021 konnte sie mit drei ihrer Kinder einziehen. Die kleine Familie musste lange in Quarantäne leben, da sie viele Krankheiten aus der Anlage mitbrachte und Hein lange medizinisch behandelt werden musste. Inzwischen leben die vier mit den anderen Schweinen zusammen. Es ist schön zu sehen, wenn Hanna gemeinsam mit ihren Kindern durchs Land zieht, frische Luft atmet, die Sonne genießt und einfach Schwein sein kann. (lächelt)
Was genau brauchen Schweine, Schafe und Schildkröten für eine gute
Haltung?
Wir versuchen, den verschiedenen Tieren ein möglichst artgerechtes Leben zu bieten und schaffen für sie eine Umgebung, die dem Lebenszustand in Freiheit sehr nah kommt. Ein gutes Beispiel dafür sind die Schweine: Zurzeit leben im Land der Tiere zwölf Schweine auf 25.000 Quadratmetern. Das klingt erst einmal viel, ist aber nicht mit dem Gebiet vergleichbar, in dem Wildschweine in der Natur leben. Damit die Schweine ihre Bedürfnisse hier trotzdem möglichst artgerecht ausleben können, gibt es viel zu beachten.
Was denn?
Sie können sich jederzeit in kuschelige Ställen zurückziehen, in Suhlen abkühlen und mit Schlamm vor Sonnenbrand und Insekten schützen. Oder Grasen und Wühlen: Damit die Schweine wie Wildschweine in der Natur im Frühling frisches Grün haben und im Winter nach Wurzeln wühlen können, säen wir im Schweineland jedes Frühjahr wieder neu ein. Würden wir dies nicht berücksichtigen, würde das Land schnell versanden und es gäbe im Sommer nicht mehr viel Essbares am Boden. So „schön“ manch ein Bio-Schweinebetrieb z.B. im TV auch dargestellt wird: Unter dem Stroh im Stall befindet sich kein durchwühlbarer und fruchtbarer Boden, sondern Beton. Die „Ausläufe“ sind meist matschig und ohne abwechslungsreiche Pflanzen. Unabhängig davon werden Bio-Schweine genau wie die anderen Tiere aus der Tierindustrie am Ende getötet.
Was brauchen die Schafe?
Sie benötigen die Möglichkeit, sich bei sommerlichen Temperaturen im Stall und im Schatten aufhalten zu können. Warmes Wetter ist so gar nicht ihr Ding. Viele Menschen kennen Schafsherden jedoch vom Deich, wo sie oft zur „Landschaftspflege“ genutzt werden und es in der Regel kaum Schatten und Orte gibt, um sich abzukühlen. Auch die Schildkröten im Land der Tiere können im Sommer selbst entscheiden, ob sie nach draußen möchten. Sie leben in verschiedenen Gruppen, da sich nicht alle untereinander verstehen. In ihren großen Gehegen können sie umherlaufen, nach Gräsern und Kräutern suchen und die Sonne genießen. Alle Tiere sollen so viel Platz wie möglich bekommen, um sich ausleben und auch aus dem Weg gehen zu können, wenn es mal nicht so harmoniert. (lacht)
Ihr bietet auch Führungen an. Was erwartet Besucher*innen?
Erst mal freundliche Menschen und veganer Kuchen, ist ja klar! Die Führungen gehen ca. eineinhalb Stunden. Wir treffen viele der Tiere an und erzählen ihre persönlichen Geschichten. Dabei belehren wir niemanden, sondern informieren unsere Besucher*innen und wecken ihre Empathie. Es hört sich erst einmal merkwürdig an, doch besonders freuen wir uns auch über Menschen, die noch nicht vegan leben. Wir geben ihnen die Möglichkeit, verschiedene Tiere und ihre Bedürfnisse kennenzulernen, die sie oft nur von ihrem Teller kennen. Bei den meisten Menschen stellt dies wieder einen Bezug zur Realität her und sie überdenken ihre Essgewohnheiten.
Dürfen die Tiere auch gestreichelt werden?
Vor den Führungen wird der Umgang mit den Tieren in der Gruppe besprochen. Wichtig: Die Tiere entscheiden selbst, ob sie Menschen begegnen möchten. Sie haben immer die Möglichkeit, sich in einem Abschnitt aufzuhalten, wo keine Besucher*innen sind. Zudem gibt es Tiere, bei denen jeglicher Kontakt zu Menschen unnötigen Stress erzeugt wie z.B. bei den Perlhühnern Calimero, Melone und Hütchen. Einige Tiere freuen sich jedoch regelrecht auf die Besucher*innen. Sie sind interessiert und lassen sich auch manchmal streicheln.
Ihr veranstaltet auch Kochkurse oder Kunstausstellungen. Wie managt ihr gleichzeitig Hof und Events?
Mit einigen engagierten Angestellt*innen und vielen lieben, ehrenamtlichen Helfer*innen können wir gemeinsam die verschiedenen Aufgabenbereiche abdecken. Es gibt z.B. Menschen, die „nur“ in der Tierversorgung sind, welche, die „nur“ im Bereich Öffentlichkeitsarbeit sind und einige, die alles machen. Ein reguläres Wochenende gibt es in dem Sinne bei uns nicht, da es immer Arbeit und vor allem im Sommer zusätzlich Veranstaltungen gibt. Ohne all unsere Helfer*innen wäre ein Projekt wie das Land der Tiere so nicht möglich. Wir können den Leser*innen nur empfehlen, uns ab Mai zu besuchen und sich selbst ein Bild vom Projekt und den geretteten Tieren zu machen. (lächelt)
INFO:
Zum Zeitpunkt des Interviews leben auf dem Hof 185 gerettete Tiere,
darunter z.B. Schweine, Hühner, Schafe, Kühe, Schildkröten und Kaninchen. Dank ehrenamtlicher Helfer*innen und einem festen Team genießen die Tiere dort ihre zweite Chance in artgerechter Haltung. Während um sechs Uhr morgens der Wecker für alle Beteiligten klingelt, warten hungrige Mäuler
bereits freudig in ihren Anlagen und strecken den Hals gen Sonne. Den
Sommer läutet das Land der Tiere übrigens mit seinem Sommerfest am 16. Juli 2023 ein. Save the date!
Mehr Infos findest du auf ihrer Homepage land-der-tiere.de und auf Instagram @landdertiere.