50 Prozent der Lebensmittel landen in Deutschland auf dem Müll. Der junge Aktivist Tatze kämpft auf eigene Faust völlig selbstverständlich gegen unsere Wegwerfgesellschaft an. Er lebt aus dem Container.
Der Raum gleicht einem Matratzenlager, an der Wand hängt ein Poster mit einem Ferkel und der Aufschrift „Wenn ihr Fleisch essen wollt, beißt euch doch in den eigenen Arsch“. Regale voll mit Flyern, Aufklebern und rot-weißen Absperrbändern stehen hier. Es ist das Zimmer eines Aktivisten. Auf dem einzigen Bett hockt im Schneidersitz der 22-Jährige Tatze. Die blonden Dreadlocks sind zusammengebunden, seine Unterlippe ziert ein Piercing. Er erzählt von der enormen Lebensmittelverschwendung, politischem Aktivismus und Lebensqualität. Tatze heißt eigentlich Andreas und kommt aus dem beschaulichen Dorf Wörth an der Isar. Seine Eltern sind weder politisch aktiv noch Veganer. Tatze ist beides. Schon in der sechsten Klasse hörte er auf, Fleisch zu essen, zum Ende der Schulzeit strich er konsequent tierische Produkte von seinem Speiseplan. Seine Motivation war das Tierleiden – Massentierhaltung findet er unfair. Seinen Redefluss unterbricht nur dann und wann die WG-Katze, die sich an ihn schmiegt und sich schließlich auf seinem Schoß zusammenrollt. „Durch meine Ernährungsweise lernte ich Veganer, Umwelt- und Tierschützer kennen und eben Menschen, die aus Überzeugung aus Abfalltonnen leben“, erzählt Tatze. Das Containern, auch Mülltauchen oder Dumpstern genannt, schwappte aus den USA nach Europa. Es sind zumeist politische Aktivisten, die die Lebensmittelindustrie nicht durch Konsum unterstützen möchten. Für Tatze ist das Containern nicht nur ein Weg, Lebensmittel, die frisch auf den Müll kommen, zu retten, sondern auch gleichzeitig eine Möglichkeit, freier und selbstbestimmter zu leben als Otto-Normal-Verbraucher. „Wenn ich weniger kaufen muss, brauche ich weniger Geld, ergo muss ich weniger arbeiten und habe mehr Zeit für schöne Dinge“, lautet Tatzes These. Dass sein Lebensstil nicht immer Freiheit bedeutet, musste Tatze vor etwa drei Jahren erfahren. Zwar macht sich der, der Lebensmittel aus den Mülltonnen von Supermärkten fischt, nach deutschem Recht nicht unbedingt strafbar, stellt der Supermarkt jedoch Strafanzeige, kann eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren folgen. Denn bis die Müllabfuhr die Tonnen leert, gehören die weggeworfenen Lebensmittel dem Supermarkt. Tatze und seine drei Mitstreiter sind ortsbekannt, sie wurden von der Polizei beim Mülltauchen ertappt, verhaftet und mussten eine halbe Nacht im Gefängnis verbringen. Alle vier wurden wegen Bandendiebstahls angeklagt. Das hält Tatze aber nicht davon ab weiterzumachen, im Dunkeln durch das Münchener Umland zu streifen und Essen zu retten.
Containern legalisieren
Um auf seinen Prozess und die Lebensmittelverschwendung aufmerksam zu machen, haben Tatze und seine Mitbewohner einen Blog (www.containerprozess.blogsport.eu/) ins Leben gerufen. „Containern legalisieren“ forderten sie dort und nahmen Kontakt zum Kläger auf. Mit Erfolg. Kurze Zeit später wurde das Verfahren gegen sie eingestellt. Bei all seinem Gerechtigkeitssinn betrachtet Tatze das Containern dennoch nicht als Lösung für die ansteigende Verschwendung von Nahrungsmitteln: „Wir brauchen ein besseres Bewusstsein für unser Essen und ich bin mir sicher, wenn wir mehr Arbeit für die Erzeugung von Lebensmitteln investieren, es selbst säen oder ernten, bekommen wir einen besseren Bezug dazu und schmeißen weniger weg.“ Mit dieser Meinung steht er nicht alleine da: Sharing Economys, solidarische Landwirtschaft, wie das Kartoffelkombinat in München – und eben Menschen, die containern, werden stetig mehr. Und auch das Europäische Parlament will die Lebensmittelverschwendung stoppen. In seiner Pressemitteilung vom 19. Januar 2012 steht das EU-Parlament für eine sparsamere Verpackung, eine bessere Ernährungserziehung an Schulen und Unis ein und lobte das Jahr 2014 als Jahr gegen Lebensmittelverschwendung aus. Weil der Fokus aber auf das Wahljahr gerichtet war, verschiebt sich das Vorhaben auf 2016 – vorausgesetzt alle Mitgliedsstaaten sowie die EU-Kommission stimmen dafür. Interessant sind die Zahlen, die von der Europäischen Kommission bekanntgegeben wurden, allemal: Insgesamt 89 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in der EU verschwendet, davon 42 Prozent in privaten Haushalten, 39 Prozent vom Erzeuger, fünf Prozent im Einzelhandel und 14 Prozent in Bewirtungsbetrieben.
Immerhin Frankreich hat den skandalösen Zahlen mittlerweile Taten folgen lassen: Seit Mai diesen Jahres gilt dort ein Gesetz, dass es größeren Supermärkten verbietet, Lebensmittel wegzuwerfen, die noch essbar sind, aber nicht mehr verkauft werden können. Diese müssen ab sofort entweder Wohlfahrtorganisationen gespendet, zu Tierfutter verarbeitet oder landwirtschaftlichen Betrieben als Dünger zur Verfügung gestellt werden. So weit sind wir hierzulande leider noch nicht.
Mit dem Rucksack durch die Nacht
„Die Zahlen bestätigen mein Handeln“, meint Tatze, schultert seinen Rucksack sowie zwei große Tragetaschen und zieht los. Ungefähr drei bis vier Supermärkte und Discounter klappert er in einer Nacht ab. Die erste Station ist in etwa zehn Minuten zu Fuß erreicht. Tatze läuft am Eingang des Supermarkts vorbei. Im Hinterhof stehen die Mülltonnen – unverschlossen. „Glück gehabt“, grinst er. Jetzt im Sommer fällt die Beute kleiner aus. „Durch die Hitze verderben die Lebensmittel einfach schneller“ meint Tatze. Es riecht etwas muffig, als er die erste Tonne öffnet, der Geruch kommt von unten, obenauf liegen frische Lebensmittel vom vergangenen Tag, sauber und zumeist verpackt. Trotzdem streift Tatze sich Einmal-Handschuhe über und stürzt sich kopfüber in den ersten Container, die Taschenlampe zwischen den Zähnen. Eine Dose Champignons, in Plastik verpackte Bananen und zwei Laib Brot wandern in seinen Rucksack. Eine Salatgurke mit Druckstellen nimmt er nicht mit. „Mit der Zeit wird man wählerisch“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Seit fast vier Jahren containert Tatze schon. „Angefangen habe ich damit, als ich von zu Hause ausgezogen bin und der Fresskorb von meinen Eltern leer war“, lacht er. Er hat sich einfach seinen Mitbewohnern angeschlossen. „Eigentlich kaufe ich nur Gewürze dazu und Hygieneartikel – die lassen sich nicht so zuverlässig containern“, erzählt er. Nachdem er seine Beute verstaut hat, schließt er den Deckel des Containers wieder, sieht sich kurz um und meint: Alles wieder so zu hinterlassen, wie man es vorgefunden hat, gehört genauso zu unserem Ehrenkodex wie anderen etwas übrig zu lassen“. Auf dem Weg zur nächsten Station wirft er die Einmal-Handschuhe in den Müll. Bei jeder Station wird er ein neues Paar verwenden, sich die Finger schmutzig machen will er nicht.
Ausharren im Verschlag
In weiteren knapp zehn Minuten Fußweg ist das nächste Ziel erreicht. Der bekannte Discounter fährt schwere Geschütze auf: Die Container sind in einem Verschlag weggesperrt. Würde Tatze hier erwischt werden, käme nicht nur eine Anzeige wegen Diebstahls auf ihn zu, sondern auch eine wegen
„Essen einkaufen“ mal anders Einbruchs. Er steigt auf eine Zeitungskiste, die direkt daneben steht, zieht sich an dem zwei Meter hohen Stahlzaun hoch und quetscht sich zwischen Zaun und Decke in den Verschlag. „Ein gewisse Fitness sollte man schon zum Containern mitbringen“, lacht Tatze. Er hat leicht reden, nicht nur das Containern gehört zu seiner politischen Arbeit, sondern auch der Kletteraktivismus. Spontane Aktionen wie das Klettern auf Straßenlaternen vor Flüchtlingslagern oder Mastställen bringen viel Aufmerksamkeit für sein Tun.
In dem engen Verschlag kann man sich kaum um die eigene Achse drehen, aber die Tonnen sind sogar noch sauberer als beim letzten Mal und bergen abgepackten Käse, frischen Spinat, Aprikosen und Tiefkühlpizza. Plötzlich wird es hell, ein Taxi parkt genau davor und wartet anscheinend auf Fahrgäste. Seine Scheinwerfer sind auf den Verschlag gerichtet. „Ruhig verhalten, nicht bewegen“, befiehlt Tatze und lehnt sich fast schon lässig gegen eine der Tonnen. Über eine halbe Stunde wird es dauern, bis das Taxi endlich wegfährt, Tatze die Lebensmittel einpackt und wieder über den Zaun klettert. Mittlerweile sind die Tragetaschen gut gefüllt, und Tatze setzt zu einem Sprint an. Die gerade einfahrende S-Bahn will er unbedingt erreichen. Es ist Freitagabend und die Waggons sind voll mit Leuten, die sich in das Münchener Nachtleben stürzen wollen. Tatze fällt unter all den schick gekleideten Menschen auf. Einige gucken neugierig, andere irritiert. „Mir is‘ des so was von wurscht“, sagt er und rollt das „r“ in bayerischer Manier. Er stellt seinen Rucksack neben sich und die Taschen auf den Boden und macht es sich gut gelaunt auf zwei Sitzen bequem. Bereit, sich weiteren Fragen zu stellen.
Die dekadente Art einzukaufen
Mitbewohner angeklagt hat, will er nicht erzählen. Bevor er sie an den Medienpranger stellt, will er einen vernünftigen Dialog mit den Marktleitern führen; sie auf die eklatante Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen und damit vielleicht erreichen, dass Container für Essensretter wie ihn frei zugänglich sind. Der besagte Supermarkt war seine größte Quelle. „Einmal hin und man konnte tagelang unsere vierköpfige WG ernähren, jetzt muss ich unterschiedliche Stationen anfahren um die gleiche Menge zu containern“, bedauert Tatze. Die positiven Aspekte des Containerns überwiegen jedoch. Es sei sogar ziemlich dekadent. „Im Winter fische ich dutzende Kilos Orangen aus der Tonne, dann gibt es täglich frisch gepressten Saft zum Frühstück. Von dieser Dekadenz können wir uns beim nächsten Supermarkt dann auch überzeugen: Die Tonnen sind zwar dreckig und bis auf vier Tüten Chips fast leer, aber daneben steht ein altersschwacher Einkaufswagen gefüllt mit Melonen, Mangos, Papayas. Die aufgeklebten Etiketten verraten – alles Obst aus Übersee und das in einem einwandfreien Zustand, einzig eine der Mangos hat eine bräunliche Druckstelle. Doch der Einkaufswagen bietet noch mehr: Baguettebrötchen, eine Schale Erdbeeren und vier Schalen Heidelbeeren. Tatze nimmt sich so viel, wie er braucht und pfeift leise, freudig vor sich hin. Etwa zwei Drittel lässt er für andere Essensretter übrig. Ehrenkodex eben. „Es gibt auch nette Supermärkte. Hier arbeitet eine Verkäuferin, die heimlich einen Einkaufswagen mit den besten Sachen rausstellt“, erklärt er. Rucksack und Taschen sind jetzt wirklich voll und die Uhr zeigt an, dass es weit nach Mitternacht ist. Er tritt den Heimweg an und reißt noch im Gehen eine Tüte Chips auf.
Von der Mülltonne zum Bauwagen
Wieder bei dem 40er-Jahre-Häuschen angekommen, in dem Tatze und seine Mitbewohner wohnen, verstaut er seine Beute im Keller. Hier ist es auch im Sommer schön kühl. Auf einem langen Esstisch ordnet er fein säuberlich und nach Kategorie die Lebensmittel an. Nur die Chipstüte ist mittlerweile leer. Bevor es an den Abschied geht, will Tatze noch sein neues Projekt zeigen. Im Garten steht ein nahezu renovierter Bauwagen. „Noch ein paar Wochen Arbeit reinstecken, dann ist das mein neues Zuhause und die 150 Euro Miete für mein WG-Zimmer kann ich mir sparen“, feixt der Aktivist. Er verrät weiter, dass er gerade mit seinem Chef über neue Arbeitszeiten verhandelt. Von einer 18-Stunden-Woche will er runter auf acht Stunden. So hätte er für politischen Aktivismus noch mehr Zeit und auf das Geld verzichtet er gerne. Er braucht es ohnehin nicht.