„Aber das ist doch unnatürlich!“ Jeder Veggie (und auch jede/r Feminist/in, doch das ist eine andere Geschichte) hat sie in seinem Bekanntenkreis: Selbst ernannte Steinzeit- und Biologie-Experten, die ganz genau wissen, was „die Natur“ seit jeher und für alle Zeit für uns Menschen so alles vorgesehen hat. Smartphones, Kinos, Regenjacken und Flugreisen offenbar durchaus, denn nur höchst selten stellt jemand deren Existenzberechtigung infrage mit dem Verweis auf mangelnde „Natürlichkeit“. Beim Thema Ernährung aber hebt sich schnell der Zeigefinger und das vegetarisch oder vegan lebende Gegenüber wird belehrt, dass es nie so schlau und kräftig geworden wäre, hätten seine Urahnen nicht ordentliche Portionen Fleisch vertilgt, und überhaupt – „fressen und gefressen werden“, das sei doch nun mal der Lauf der Dinge. Gut, wer sich dann auskennt und auf Phrasen (die durchaus Wahrheits-Funken enthalten) fundierte und reflektierte Antworten geben kann. Stellen wir uns also zunächst die Frage – stimmt das überhaupt mit der „Unnatürlichkeit“ des Vegetarismus? Gab und gibt es Naturvölker, die sich fleischlos oder gar völlig tierproduktfrei ernähren? Da gleich mal zu Beginn die schlechte Nachricht: Kaum. Zum „Aber“ kommen wir später.
Tatsache ist, dass der Mensch von seinen körperlichen Anlagen her ein Allesesser ist, allerdings mit einer überwiegenden Prägung seiner Organe und seiner Physiologie auf pflanzliche Kost. Darauf weisen etwa die Proportionen von Magen, Dünn- und Dickdarm hin, die deutlich mehr jenen von nicht wiederkäuenden Pflanzen- als von reinen Fleischfressern ähneln, wie sich z.B. im Veggie-Standardwerk „Vegetarische Ernährung“ von Prof. Dr. Leitzmann und Dr. Markus Keller nachlesen lässt. Auch der Schluckmechanismus sowie die Beschaffenheit und Funktionsweise von Zähnen und Zunge deuten auf eine vorwiegend pflanzliche Nahrung unserer Vorfahren hin. Vorwiegend, nicht ausschließlich. Aßen unsere ältesten Vorfahren aktuellen Vermutungen zufolge vor rund 50 Millionen Jahren hauptsächlich Insekten, reduzierten sie den Anteil daran in der Folgezeit zugunsten von Blättern und Früchten. Einige Jahrmillionen später folgte zudem der Verzehr stärkehaltiger Knollen. Insgesamt eine Ernährungsweise, die der der heutigen Menschenaffen sehr ähnelt, pendelt(e) sich hier wie dort doch der Anteil tierischer Nahrung im einstelligen Prozentbereich ein.
Artgerechte Menschenhaltung – dazu gehören Schnitzel und Steaks, so die weit verbreitete Ansicht. Was sagt uns dazu unsere Physiologie, was die Ernährungsweise indigener Völker? Handeln wir Veggies wider die Natur, wenn wir unserem Körper den „Genuss“ von Fleisch verweigern? Und ist das überhaupt wichtig? Ein Blick über den Tellerrand.
Klug durch Fleisch?
Als schließlich vor rund zwei Millionen Jahren die ersten Holz- und Steinwerkzeuge die Jagd ermöglichten, erhöhte sich dadurch der Fleischkonsum unserer Ahnen. Womit wir zu dem Argument kommen, das die gebildeteren Fleischkonsum-Verfechter gerne ins Feld führen: Ohne die Zufuhr tierischer Proteine hätte sich unser Gehirn nämlich nie so gut entwickeln können, wäre der Homo sapiens nie entstanden. Man könnte zynisch werden und fragen, ob das für die Erde wirklich einen Verlust bedeutet hätte, aber das führt an dieser Stelle nicht weiter. Tatsächlich waren es aktuellsten Forschungen zufolge vermutlich eher tierische, langkettige Omega-3-Fettsäuren als Proteine, die für die menschliche Gehirnentwicklung verantwortlich waren. Eindeutig belegen lässt sich das nicht, wobei das Fleischesser-Argument zunächst bleibt: Ja, vermutlich haben wir tierischer Nahrung unser heutiges Sein und Denken zu verdanken. Sicher weiß man es nicht. Ob unsere Vorfahren nun in erster Linie Sammler oder Jäger, Fischer oder Aasfresser waren, darüber gehen die Meinungen auseinander. Am schlüssigsten scheint jene Theorie, die von einer hohen Anpassungsfähigkeit des menschlichen Körpers an seine Umgebung ausgeht. Sprich: Die Verfügbarkeit von Nahrung bestimmt die Ernährungsweise.
So weit, so vielfältig, so variabel. Wem die wissenschaftlichen Herleitungen aus der Urgeschichte zu ungenau und dürftig erscheinen, der wird vielleicht im Heute fündig. Schließlich gibt es immer noch indigene Völker, also Gemeinschaften, die sich weitgehend abgeschnitten von der industrialisierten Welt einen Lebensstil bewahrt haben, wie ihn ihre Vorfahren bereits vor Urzeiten geführt haben. Was sagt uns deren Lebensweise über unsere eigenen Ursprünge? Was über die „Natürlichkeit“ unseres Veggie-Daseins?
Tatsächlich gibt es unter den sogenannten Naturvölkern kaum eines, das sich gänzlich und freiwillig rein pflanzlich ernährt. Einige Ausnahmen bestätigen die Regel, doch scheint auch deren Essverhalten eher Folge kulturgeschichtlicher Phänomene zu sein als dass es auf instinktivem Fleischverzicht beruht. So sank etwa der Fleischkonsum im Vegetarier-Hauptland Indien innerhalb des letzten Jahrtausends vor Christi, als es im Zuge des Bevölkerungswachstums schwieriger wurde, große Herden zu halten. Im ärmeren Teil der Bevölkerung fanden sich so zunehmend mehr Vegetarier, die alsbald in allerhand Strömungen wie etwa dem Jainismus und Buddhismus spirituelle Grundlage für ihre Haltung fanden. Blutige Tieropfer galten nun nicht mehr als Weg, sich mit dem Göttlichen zu verbinden, stattdessen setzten sich Meditation, Yoga, Askese und freiwilliger Fleischverzicht immer mehr durch. Zu den bekanntesten, heute noch lebenden Völkern, die im Einklang mit der Natur eine vegetarische Lebensform führen, gehören etwa die Todas, die in der Bergregion Nilgiris leben und sich fleischlos, allerdings nicht vegan ernähren. Den Hauptanteil ihrer Ernährung liefern ihnen neben Waldfrüchten Produkte aus Büffelmilch, und, anders als hierzulande, wird es den Spendern gedankt: Die Rinder werden geschätzt, als heilig verehrt und ganz gewiss nicht getötet.
Ebenfalls in Indien zu Hause, in der Thar-Wüste am Rande Pakistans, ist das Volk der Bishnoi, deren Naturverehrung so weit geht, dass sie das Leben eines Baumes höher schätzen als ihr eigenes und dass Frauen bisweilen elternlose Baby-Gazellen säugen. Zu ihren 29 Regeln (daher ihr Name: bish = 20, noi = 9) gehört der strikte Vegetarismus und das Verbot, Tiere zu töten, seien sie auch noch so klein. Die Mitgeschöpfe gelten als schützenswert und sind den Bishnoi heilig.
„Danke für dein Fleisch.“
Darin, so paradox es zunächst klingen mag, sind diese vegetarisch lebenden Stämme sogar jenem Großteil der Urvölker ähnlich, der seit jeher Fleisch verzehrt. Denn auch bei diesen Menschen werden Tiere mitnichten als bloße Ware und Material gesehen, sondern als beseelte, verehrungswürdige Lebewesen, ja Verwandte, die dem Menschen ebenbürtig und in vieler Hinsicht gar überlegen sind. Aus bloßer Lust an der Trophäe oder am schnellen Genuss wird hier kein Tier
getötet, stattdessen wird der Verzehr in der Regel als Teil eines immerwährenden Kreislaufs gesehen und gilt bei allen der Ethnologie bekannten Naturvölkern als besonders kraftspendend. Dem Tier gegenüber, das sein Fleisch gegeben hat, wird eine tiefe Dankbarkeit empfunden, die Grundhaltung lässt sich herunterbrechen auf: „Heute esse ich dich, morgen wirst vielleicht du mich verspeisen. Danke für dein Fleisch.“ Welcher mitteleuropäische Allesesser dagegen nähme den Gedanken, dass ein paar Gänge hinter der Fleischtheke ein hungriger Löwe auf ihn lauert, so gelassen hin? Mit den Worten des Kulturanthropologen und Ethnobotanikers Wolf-Dieter Storl ausgedrückt, der in seinem Artikel „Gibt es vegetarisch lebende Naturvölker?“ (Natürlich 8/2003) schrieb: „In der Natur benimmt sich niemand wie im Supermarkt.“
Heiliger Teil des großen Ganzen ist der Fleischverzehr bei den einen, sozialer Kitt bei einigen anderen Stämmen. In „Umverteilungsfesten“ bei diversen Hirtennomaden und Bauernvölkern. Häuptlinge verteilen im Rahmen dieser Feierlichkeiten das Fleisch an Verbündete, um eine Art „Blutsverwandtschaft“ zu besiegeln. Neben solchen Ritualen hat jedoch auch der Vegetarismus durchaus seinen Platz innerhalb vieler indigener Stämme. Häufig entsagen Menschen, die innerhalb des Volkes eine besondere Position innehaben, zeitweilig oder ganz dem Fleischverzehr, meist in einem magisch-kultischen Zusammenhang. Zu beobachten ist dies beispielsweise bei Schamanenanwärtern im Amazonasgebiet, die während ihrer Ausbildung eine strenge Diät einhalten und nicht nur auf Fleisch und Fisch, sondern mitunter auch auf das Essen bestimmter Früchte verzichten. Ähnliche Askese-Vorschriften kennt man auch aus Indien, etwa von den „nackten Heiligen“, den Sadhus und Sadhvis. Solche Fastenerfahrungen sollen jene Auserwählten offener machen gegenüber der transzendentalen, göttlichen Welt.
Solch ein Artikel kann nur einen sehr kleinen Einblick geben in die Erlebniswelt indigener Völker. Zurück zu unserer Ausgangsfrage aber lässt sich festhalten: Wer „die Natur“ als Rechtfertigungsgrund für sein Essverhalten heranziehen möchte, hat sowohl als Fleischesser als auch als Veggie schlechte Karten, insbesondere dann, wenn er oder sie es in einem „War schon in der Steinzeit so, muss so bleiben“-Sinne tut. Denn der birgt schließlich schon per se eine fragwürdige Interpretation des „Natürlichen“, der ein Großteil von uns seltsamerweise tatsächlich hauptsächlich in Ernährungs- und Geschlechterfragen verfällt. Es ist doch vielmehr so: Die Welt verändert sich, seit es sie gibt, Menschen entwickeln sich und werden es weiter tun. Zum Guten, zum Schlechten, zum Mittelmäßigen, das sei dahingestellt. Fakt ist: Im Hier und Jetzt, in unserer Gesellschaft haben wir die Wahl. Auch beim Essen. Längst gibt es zahlreiche Belege dafür, dass unser heutiger Körper nicht auf tierische Nahrung angewiesen ist, vom berühmten Vitamin-B12-Problem der Veganer einmal abgesehen. Ja, dieses zu supplementieren ist „unnatürlich“. Doch bevor jemand dem Veganer seiner Wahl solch ein „Argument“ an den Kopf knallt, sollte er erst mal das Deckenlicht ausschalten, die Cola wegschütten, sich in den Lendenschurz werfen und es sich in einer kuscheligen Felshöhle so richtig gemütlich machen. Dann reden wir weiter.