Sind Veggies Spaßbremsen?

Jan Hegenberg Der Graslutscher

Geht euch das auch so? Ihr schlagt eine beliebige Zeitschrift auf und bekommt dann beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses so ein leichtes Zucken im Auge, weil sich für Seite 50 jemand zum Thema fleischfreie Ernährung ankündigt, dessen Kernkompetenz aber eigentlich eher Buchkritiken, Häkeltechniken oder Gitarrenverstärker sind? Ich bin ja Optimist, ich denke zuerst immer „cool, schlechte Publicity gibt es eigentlich nicht …“. Bis ich dann bei Seite 50 ankomme und in kurzen Abständen sehr heftig in ein Kissen reinschreie.

Irgendjemand scheint mal die Regel aufgestellt zu haben, dass Artikel von komplett Ahnungslosen jenseits der Springer-Presse eigentlich nicht abgedruckt gehören und man ja im Zweifel stattdessen die Leserbriefe um eine Seite verlängern kann. Leider hat dieser jemand anscheinend eine Ausnahme definiert, dass diese Regel nicht gilt, wenn es um Vegetarismus geht.

Erst mal wissen diese Autoren erstaunlich oft die praktischerweise identische Motivation von sechs Millionen Vegetariern. Haben die ein Orakel in der Garage? Man liest dann so was wie „Der Veggie-Trend boomt, dabei ist vegetarische Kost gar nicht immer gesund, auch Vegetarier können sterben!“ Ach echt? Na Potzblitz, wer hätte das gedacht, jeden Tag Oreo-Kekse in Schnapssuppe sind gar nicht gesund! Endlich warnt mal jemand vor diesem krankhaften Veggie-Wahn!

Normale Veggies gibt es in deren Welt meist auch nicht, die Skala hat genau zwei Einträge: Sich selbst kasteiende Spaßbremsen, die jeden Tag furchtbar gesundes Zeug essen und barfuß in einem Erdloch hausen oder aber Junk-Food-Veganer, die sich den ganzen Tag mit Ersatzprodukten aus „Chemie“ vollstopfen und vom vielen Soja (noch mehr) Brüste bekommen werden. So schnöde Gerichte wie eine selbstgekochte Portion Linsensuppe scheint die Fantasie der Autoren zu überfordern.

Zum Beispiel war Alexander Neubacher für Spiegel TV durch die Republik gezogen, um exakt diese beiden Sorten zu finden. Der Selbstversorger Wolf-Dieter Storl wurde als abgefreakter Religiöser darzustellen versucht, weil er der vollkommen verrückten Idee anhängt, sein selbst angebautes Gemüse zu essen. Ein Skandal, wie kann er nur? Menschen haben immer schon Fleisch … eeehm, eingeschweißtes EU-Norm-Gemüse gegessen, wozu sonst die Reißzähne?

Und als nächstes galoppiert Neubacher dann direkt in eine Veganz-Filiale, wo er sich von Jan Bredack allerlei Ersatz- und Ergänzungsprodukte zeigen lässt. Dass auch Veggies nicht jeden Tag Fake-Tintenfischringe mit Vitamin-B12-Ketchup essen und das häufigste Gericht der Woche bis vor 100 Jahren Kohl- oder Bohneneintopf waren, ist wohl ein etwas zu komplizierter Gedanke für jemanden, der 80kg Fleisch pro Deutschem pro Jahr vollkommen normal findet.

Ähnlich unsinnig wird es, wenn sich Leute mit fünfminütiger Internet-Recherche zutrauen, den Nährstoffmangel von zehn Prozent der deutschen Bevölkerung per Ferndiagnose zu bestimmen. Ganz ohne Fleisch? Na, das geht nur, wenn man keinen Sport treibt, sonst hat der Körper zu wenig Kraft! Und zu wenig Calcium, Eisen, Zink, Vitamin Ü, Plutonium und so. Halt Moment, nach 10 Minuten Recherche stellt sich heraus, dass eigentlich nur Vitamin B12 fehlt. Puuh, der Veggie-Massenexodus fällt aus. Also doch alles prima mit der Veggie-Gesundheit?

Nein, denn wenn jemand B12-Tabletten lutscht, dann ist er ein fanatischer, die Natur verleugnender Cyborg. Während Jod im Salz, Vitamine in den Corn Flakes und Folsäure in Präparaten für Schwangere ja Maßnahmen sind, die schon unsere Vorväter in den Höhlen so praktiziert haben. Not. Überhaupt finde ich diesen Natürlichkeits-Anspruch etwas befremdlich, wenn er von Leuten geäußert wird, die ein Leben mit beheizbaren Außenspiegeln, moderner Zahnmedizin und Smartphones genießen. Wie natürlich ist das bitte?

Ähnlich schwer tun sich viele damit, Veggies so was wie eine nachvollziehbare Motivation zuzugestehen. Den meisten Kommentatoren sind Vegetarier, und Veganer sowieso, zu radikal. Zu fanatisch. Auf aufdringlicher Mission. Die können ja nicht mal eine Ausnahme machen, schlimm ist das! „Jetzt iss‘ doch mal ein Stück von meinem Hacksteak, ich hab‘ doch extra Bio-Fleisch gekauft!“ Wer daraufhin dankend ablehnt, der gilt schnell als verbohrt und starrköpfig – ein Dogmatiker, der lieber kaltherzig seiner Oma einen Gefallen ausschlägt als einfach mal alle Fünfe gerade sein zu lassen und einen herzhaften Happen Kuttelsuppe im Mund zu parken.

Andererseits schmiert man uns von der anderen Seite gerne mal aufs Brot, wenn auch wir Fleischverweigerer mal unvernünftige Dinge tun. „Was, Du fährst Auto? Aber Du bist doch Veganer! Das ist ja ganz schön inkonsequent.“ Also fürs Protokoll: Wenn wir nicht gerade die sturen Moralapostel durchs Land ziehen und alle mit unserer Konsequenz nerven, sind wir den anderen nicht konsequent genug. Klingt nicht so, als könnte man es besonders vielen gleichzeitig recht machen.

Ich frage mich dann immer, ob es nicht auch was dazwischen gibt. Haben all diese Autoren denn wirklich nur die Extreme des vegetarischen Spektrums kennengelernt? Kann man denen nicht einfach mal einen Menschen vorstellen, welcher einfach nur der zugegeben irrsinnigen Idee anhängt, dass man Tieren halt nicht weh tun sollte und der so gut er kann danach handelt? Ja, wir essen Sojawürste, die so aussehen wie echte Würste. Ja, wir müssen im Restaurant manchmal seltsame Kombinationen bestellen, weil das Menü dem Traum eines Schlachters entsprungen zu sein scheint. Ja, veganer Käse schmeckt oft scheußlich und wir lutschen Vitamin-B12-Pillen.

Aber wir tun das ja nicht aus Selbstzweck oder weil wir uns abgrenzen wollen, sondern um damit wehrlose Kreaturen vor einem echt ekligen Schicksal zu bewahren. Würden Autoren diesen Umstand im Hinterkopf behalten, müsste ich nicht so oft in Kissen schreien.


Der Graslutscher schreibt regelmäßig für unsere Printausgabe. Weitere Informationen zu seiner Person finden Sie unter www.graslutscher.de. Seine Texte gibt es ebenso auf Bloglovin und Twitter.

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